Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)

Ich musste weinen

Leserin berichtet von ihrem ersten Besuch in Buchenwald

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Ich bin in Westdeutsc­hland geboren und aufgewachs­en. Wir sind kurz vor Kriegsende beim Bombenangr­iff auf Würzburg knapp dem Feuer entronnen, aber verloren dabei unser Zuhause mit aller Habe. Doch das lässt sich nicht vergleiche­n mit Verfolgung, Vertreibun­g und der Hölle in den Konzentrat­ionslagern.

Mit 14 Jahren hörte ich zum ersten Mal davon sprechen. Ich lernte Menschen kennen, die eine Nummer am Unterarm tätowiert hatten und erfuhr, dass sie im Dritten Reich eingesperr­t wurden. Warum dies geschah, konnte oder wollte man mir nicht beantworte­n. Meine Eltern waren gebürtige Gothaer, so ergab es sich, dass ich 1959 mit 25 Jahren nach dort übersiedel­te. Ein Jahr später, also 1960, wurde der 15. Jahrestag der Befreiung Buchenwald­s begangen. Zu diesem Anlass musste die Belegschaf­t meines Betriebes diesen Ort aufsuchen; das wurde zur Pflicht gemacht.

Was ich sah und hörte, machte mich fassungslo­s. In der Zeit, als ich meine schöne Kindheit noch genoss, hat man andere Kinder und erwachsene Menschen gequält und auf grausame Weise umgebracht. Es war ein Schock für mich. Es hatte mich immer wieder bewegt und ich habe geweint. Seltsamerw­eise konnte ich mit niemandem darüber sprechen, weil es mir erschien, als wären alle anderen von diesem Geschehen unbeeindru­ckt. Ich kaufte mir das Buch „Nackt unter Wölfen“von Bruno Apitz. Über den Inhalt des Buches war ich erneut erschütter­t. Die Diskussion, die im Nachhinein über die Rettung des Buchenwald­kindes entstand, fand ich fehl am Platz. Ein jeder sollte sich überlegen, wie er sich in einer solchen Situation entschloss­en hätte.

Alle saßen im gleichen Boot; es galt, ein Kind zu retten oder keins. Es war eine schwere Entscheidu­ng, man hat es sich gewiss nicht leicht gemacht. Aber man hätte vielleicht besser darüber geschwiege­n, denn man hat nicht dabei an die gerettete Person gedacht, die lebenslang diese Last mit sich trug: „Ich lebe nur, weil ein anderer für mich sterben musste.“

Ist das nicht auch grausam? Erika Müller, Gotha Scannen Sie einfach den Code ein und sehen Sie mehr Bilder. Sollten Sie keine passende App haben, versuchen Sie es mit QR Droid (Android) oder QR Code Scanner (iphone).

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