Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)
Die Erinnerung wachhalten
Gedenkveranstaltung in Heiligenstadt zum 80. Jahrestag der Pogromnacht. Christian Stützer berichtet über zwei bewegende Begegnungen
Heiligenstadt.
Die Liste der Namen, die gestern Nachmittag in der Stubenstraße verlesen wird, dort wo einst die Synagoge stand, ist lang. Es sind die Namen von 49 jüdischen Mitbürgern sowie eines Sinti. Der Initiativkreis „Jüdisches Erbe in Heiligenstadt“hat zu einer Gedenkveranstaltung eingeladen, um an den 80. Jahrestag der Pogromnacht zu erinnern. Gekommen sind unter anderem Bürger, Stadträte, der Bürgermeister.
Auch nach 80 Jahren dürfe man nicht gleichgültig werden, müsse sich an die furchtbaren Ereignisse des 9. November 1938 und danach erinnern, sagt Ute Althaus, Erste Beigeordnete der Stadt. Die Erinnerungs- und Gedenkarbeit sei nach wie vor wichtig – auch, „damit sich in der Geschichte mit dem Wissen von heute das Unheilvolle nicht wiederhole“. Der Friede sei auch heute zerbrechlich, sagt Ute Althaus.
Kerzen werden in der Stubenstraße entzündet und Blumen niedergelegt. Wolfgang Busse von der Eichsfelder Musikschule und sein Saxophon-quartett spielen jüdische Weisen und „I have a dream“. Letzteres als Brückenschlag und für Brüderlichkeit und Freiheit stehend.
Christian Stützer, Sprecher des Initiativkreises, hatte im Vorjahr zum wiederholten Mal mahnende und eindringliche Worte bezüglich der beginnenden Beplanung und Neubebauung des Areals an die Gedenkveranstaltungsbesucher gerichtet – über sechs Jahre nach dem Abriss des am 10. September 1873 eingeweihten einzigen jüdischen Gotteshauses in der Region. „Nun haben die Arbeiten begonnen, und es freut uns sehr, dass in die Gestaltung der Fassaden der hiesigen Stubenstraße in moderner Form die Silhouette beziehungsweise Fassade der ehemaligen Heiligenstädter Synagoge mit einbezogen wird“, sagt er. Zukünftig solle es eine Gedenknische geben, die auf den besonderen Ort hinweist.
Bei der künstlerischen und vor allem inhaltlichen Gestaltung der Nische möchte der Initiativkreis (neben der Familie Wüstefeld) Bürgermeister Thomas Spielmann und die Fraktionen im Stadtrat darin ermutigen, „einen gemeinsamen Weg zu einer Konzeption zu beschreiten“. „Lassen Sie uns dafür sorgen, dass ein würdiger und ansprechender Gedenkort entsteht, der an die Zeit jüdischen Lebens in Heiligenstadt erinnert“, lautet Stützers Appell.
Christian Stützer richtet den Blick dann auf andere Bilder, auf solche aus Chemnitz, Köthen oder Berlin. Auf Bilder „von pöbelnden Demonstranten des rechten Parteienspektrums, die Deutschland von einer Überfremdung schützen beziehungsweise erretten wollen, von jüdischen Männern, die in Berlin auf offener Straße beschimpft und geschlagen werden, da sie selbstbewusst ihre Kippa tragen oder auch von der Verunglimpfung eines jüdischen Restaurantbesitzers“. Diese Bilder, sagt der Heiligenstädter, machten ihn „und hoffentlich uns alle“nachdenklich. Sie würden die Frage aufwerfen: „Sind Antisemitismus und Fremdenhass in unserem Land wieder salonfähig?“
„Müssen wir, die wir zwar nicht persönlich die schrecklichen Jahre Hitler-deutschlands erleben mussten, nicht aus den 12 Jahren der Geschichte gelernt haben, die unser Volk, unser Land und Europa in die größte menschliche Katastrophe geführt hat? Wie wollen wir dies anderen Menschen erklären, die uns besuchen, die uns treffen, die uns dazu fragen?“ Christian Stützer berichtet von zwei Begegnungen, die er dieses Jahr hatte. Da ist zum einen der Besuch von Alex Loewenthal und seiner Frau aus den USA im Juni in der Eichsfeldstadt. Alex Loewenthal – dessen Vater Hans Loewenthal 1939 aus Heiligenstadt nach Amerika floh, nachdem er mit seinem Vater Alexander nach den Ereignissen des 9. November 1938 im Konzentrationslager Buchenwald interniert war – sei begeistert von der Stadt gewesen, die er zum ersten Mal besuchte. „Wir haben über die Geschichte gesprochen, seine Geschichte, die Geschichte der Familie, über die Gegenwart und Zukunft“, sagt Christian Stützer.
In der Familie werde trotz der Flucht des Vaters und der Onkel sowie der Ermordung des Großvaters in Theresienstadt und der Großmutter in Auschwitz sehr viel über die Heiligenstädter, die eichsfeldischen und deutschen Wurzeln gesprochen. Selbst der Vater hätte sich Zeit seines Lebens in den USA viel und vor allem herzlich an Heiligenstadt erinnert – trotz allem, habe der Sohn berichtet. Auch der Name von Dr. Siegfried Loewenthal, der 1873 in Heiligenstadt geboren wurde und 1951 in Berlin verstarb, wurde gestern verlesen. Im Sommer lernte Christian Stützer seine heute noch in München lebende und inzwischen 101 Jahre alte Tochter kennen. „Es war ein emotionales Gespräch mit der alten Dame, die von freudigen Ereignissen und Erinnerungen aus Heiligenstadt erzählte, wie sie ihre Sommerferien in den 30er-jahren in der Heimatstadt des Vaters verbrachte, ihr Vater an seiner Heimat hing und sich gern an die Stadt und seine Bewohner erinnerte“, erzählt Christian Stützer.
Es habe in dem Gespräch aber auch nachdenkliche Momente gegeben, als es um die Berliner Zeit ging, als die Familie ihren seit 1933 mit einem Berufsverbot belegten Vater vor dem Zugriff von SS oder Gestapo schützte, wenn gerade wieder eine Razzia anstand und sie ihn überall im Stadtgebiet in Kleingärten, bei Freunden und Bekannten über einen kürzeren oder längeren Zeitraum verstecken mussten.
„Was antwortet man einem Amerikaner oder einer 101 Jahre alten Frau, die einen auf Fremdenfeindlichkeit und immer mehr wachsenden Antisemitismus in unserem Land anspricht oder die Fragen dazu stellen?“, fragt Christian Stützer. „Ich denke, wir können uns nur gemeinsam diesen, in unserer Gesellschaft immer stärker aufsteigenden Kräften und Strömungen entgegenstellen, indem wir selbst für das Gegenteil eintreten und auch nicht wegsehen, wenn an Stammtischen oder bei Feiern dumpfe Parolen oder in diese Richtung gewandte Aussprüche fallen“, sagt der Sprecher des Initiativkreises „Jüdisches Erbe“und appelliert, Zeitzeugen zu Wort kommen zu lassen und sich bewusst zu machen, „was Menschen aus religiösen, ethnischen oder anderweitigen Gründen in unserem Land erleiden mussten“.
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