Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)
Ein Gottkönig mit Lust auf Scherze
Geistliches Oberhaupt und Demokrat, spiritueller Lehrer und Freund der Wissenschaft: Der Dalai Lama wird 85
Und, hat er nun eine Aura? Das wird man oft gefragt, wenn man von einer Begegnung mit dem Dalai Lama berichtet. Doch die Antwort muss so komplex ausfallen wie die Person dieses Gottkönigs und Demokraten – ein spiritueller Meister, der die Wissenschaft umarmt. Er steht seinem vertriebenen Volk so lange vor wie kein anderer Führer – eine Rolle, die man biblisch nennen kann. Und doch unterhält er sich mit Klofrauen über ihr Trinkgeld. Dieser Mensch, den wir als Dalai Lama kennen, feiert am 6. Juli seinen 85. Geburtstag. Wer hinschaut, mag das ewige Kind in ihm erkennen.
Wie kann man also gelassen bleiben, wenn sich die Tür zum Festsaal im Bochumer Rathaus endlich öffnet. Der Dalai Lama soll sich – zwölf Jahre ist es her – nur ins Goldene Buch eintragen, aber alle Journalisten sind mehr als nur professionell nervös. Schließlich: tibetische Gesichter, Mönche. Dann: der Dalai Lama! Eigentlich sollte Seine Heiligkeit nun am Spalier der Kameras vorbeilaufen. Doch er bleibt stehen und tut so, als wollte er ein Ei auf dem Kopf balancieren. Alle rätseln, der Dalai Lama lacht, zeigt schließlich auf einen Kameramann. Der hat seine langen Haare zum Dutt hochgesteckt … ja, wie ein Ei. Gelächter, die Spannung ist raus.
Der Dalai Lama beliebt zu scherzen, aber wie sollte er kommunizieren ohne solche Tricks? Die Erwartungen an ihn sind seit jeher so außerhalb des menschlichen Maßes wie die Gipfel um Lhasa. Knapp zwei Jahre alt ist er, da einigt sich eine Suchexpedition nach Orakeln und Visionen, dass dieses Kind armer Bauern die 14. Wiedergeburt des Dalai Lama ist: des weltlichen und geistlichen Führers der Tibeter. Damals hört der Junge noch auf einen Mädchennamen: Lhamo Dhöndup, die wunscherfüllende Göttin.
Doch als er 1940 seinen Thron besteigt, sprechen die Menschen den Vierjährigen nur noch mit „alle Wünsche erfüllender Edelstein“an (Yishin Norbu) oder als „Gegenwart“(Kundün, man schaue nur den gleichnamigen Film von Martin Scorsese an); als Mönchsnamen wählt man für ihn Tenzin Gyatso. Seine Heiligkeit führt ein Leben unter Erwachsenen, streng, ja, einsam. Es ist wohl sein Glück, dass der österreichische Bergsteiger Heinrich Harrer in den Nachkriegswirren den Potala-palast erreicht. Er bringt dem „Ozean der Weisheit“ („Dalai Lama“) nicht nur Geografie näher, sondern auch Wissenschaft und Kino: „Sieben Jahre in Tibet“mit Brad Pitt – so viel Filmstoff in einem Leben.
Neun Jahre, nachdem die Chinesen Tibet besetzen, flieht der Dalai Lama 1959 nach Indien. Als Soldat verkleidet reitet er über 5000 Meter hohe Pässe, bis sein Pony zusammenbricht, dann weiter auf einem Yak. Nur rund 111.000 Tibeter leben wie er im Exil, davon 1300 in Europa. Bis heute reist er von Dharamsala aus um die Welt.
Menschliche Ebene ist die wichtigste
Trifft der Dalai Lama dabei hochrangige Politiker, protestiert China. Doch obwohl er nichts zu versprechen hat, bekommt er weiter Einladungen. Der einzige Grund ist wohl: seine Aura. Die Legende, seine Überzeugungskraft. Denn das ist sein Rezept für alle Lebenslagen: „Ich habe immer die menschliche Ebene für die wichtigste gehalten.“Religion, Rasse, Nation und Status, alles nachrangig. Der Dalai Lama sucht den kleinsten gemeinsamen Nenner – und wird selbst zu einem.
Das ist auch seine Kernbotschaft, wenn er im Westen spirituelle Unterweisungen gibt: „Falls du glaubst, du bist zu klein, um etwas zu bewirken, dann versuche mal zu schlafen, wenn eine Mücke im Raum ist.“Für seine spirituellen Anhänger mag er ein weiser Lehrer sein, für seine weltlichen ein zweiter Gandhi.
Mit lustigem Englisch, im Schneidersitz auf einem Stuhl bricht er alle Erwartungen — und erfüllt sie zugleich. Und sind erst mal Kinder dabei, lädt der Ozean der Weisheit zum Planschen ein.
2011 gab er seine politische Macht an das tibetische Exilparlament ab. Und auch die 450 Jahre alte geistliche Institution soll mit ihm enden: Der Dalai Lama will den Dalai Lama abschaffen. Ein Mächtiger misstraut seiner Macht – vor allem soll kein Nachfolger von der chinesischen Führung instrumentalisiert werden. Denn weiterhin wirft diese dem Dalai Lama vor, er „und seine Clique“wollten „Großtibet“aus China herauslösen. Tatsächlich fordern die Exiltibeter schon lange nur „kulturelle und sprachliche Autonomie“. Dies sei bereits chinesisches Recht, nur werde es nicht umgesetzt. Würde China zum Rechtsstaat, wäre das tibetische Problem gelöst, erklärte der Dalai Lama, als wir ihn 2007 zum Interview trafen.
Haben wir damals eine Aura gespürt? Der Weltpolitiker im Mönchsgewand ließ den Journalisten keine Zeit, darüber nachzudenken. Deutete aufs Sofa, ganz Profi, und los ging’s. Als die Stunde um war, ganz exakt, stand er auf, und Schals wurden so schnell getauscht, dass wir uns fast verhedderten. Das alles machte uns ziemlich nüchtern und ihn normal. Aber vielleicht war das wieder so ein Dalailama-trick. Aura hin oder her, einen festen Händedruck jedenfalls, den hat er.