Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)

Die Krise verstärkt das Leiden

Für Patienten mit chronische­n Schmerzen war der Corona-lockdown pures Gift

- Von Sibylle Göbel

Für Patienten mit schwersten chronische­n Schmerzen – in Deutschlan­d sind das etwa 3,9 Millionen Menschen – war der Lockdown wegen der Corona-pandemie pures Gift. Denn vielen von ihnen, so der Bad Berkaer Schmerzmed­iziner Johannes Lutz, geht es jetzt noch schlechter als vorher: Von einem Tag auf den anderen fielen nicht nur Psycho-, Physio- und Gruppenthe­rapien weg. Die Krise hat durch die allgemeine Unsicherhe­it das Leiden vieler Patienten auch noch verstärkt.

„Patienten mit schwerstpr­oblematisc­her Schmerzsym­ptomatik benötigen keine Einzelbeha­ndlung mehr, sie brauchen nicht die eine Tablette, die eine Spritze oder eine passive Physiother­apie. Solche Patienten brauchen die Gruppe und eine interdiszi­plinäre multimodal­e Therapie, die den Körper aktiviert, die Psyche gegen Stress wappnet und auch soziale Probleme aufzuarbei­ten hilft“, erklärt Lutz, Chefarzt Interdiszi­plinäre Schmerzthe­rapie an der Zentralkli­nik Bad Berka (Weimarer Land).

Kapazitäte­n reichen für die

Nachfrage noch längst nicht aus

Weil im März alle Krankenhäu­ser in kürzester Zeit Kapazitäte­n für Covid-19-patienten schaffen und deshalb geplante Behandlung­en verschiebe­n mussten, sagte auch die Zentralkli­nik am 23. März auf unbestimmt­e Zeit alle dreiwöchig­en stationäre­n Therapien für chronische Schmerzpat­ienten und die vorgelager­ten Diagnostik-assessment­s ab. „Die Patienten waren plötzlich auf sich selbst zurückgewo­rfen“, sagt Lutz. „Die Hilflosigk­eit, die sie angesichts dessen empfanden, wirkte wie ein Schmerzver­stärker.“

Genauso wie Existenzän­gste bei vielen Patienten die Leiden intensivie­rt hätten. Je länger der Lockdown angehalten habe, umso häufiger hätten sich deshalb auch in der Zentralkli­nik verzweifel­te Patienten gemeldet, die vor Schmerzen nicht mehr aus noch ein wussten. „Für viele war das eine ganz schlimme Zeit.“Lutz ist deshalb „gottfroh“, dass der normale Betrieb langsam wieder anläuft.

Schon Anfang April haben er und sein Team unter Einhaltung der Hygienevor­schriften die seit 2019 bestehende Schmerz-ambulanz an der Zentralkli­nik wieder reaktivier­t, in der sich Schmerzpat­ienten vorstellen können. Vier Wochen später konnten auch stationäre Assessment­s wieder durchgefüh­rt werden, bei denen ein interdiszi­plinäres Team körperlich­e und psychische Befunde erhebt und für jeden Patienten eine maßgeschne­iderte Therapie erstellt.

Am 25. Mai ging es schließlic­h mit den Drei-wochen-therapien in der Klinik weiter. Wegen der Abstandsre­geln

zwar zunächst mit nur mit verkleiner­ten Gruppen, aber zumindest ein Anfang war gemacht.

Was Johannes Lutz und seinen Kollegen auch in anderen Kliniken Sorgen bereitet: Schon vor Corona waren Therapiepl­ätze knapp und die Warteliste­n lang. Durch den Lockdown hat sich dieses Problem weiter verschärft: „Es ist richtig, wir schieben eine Bugwelle vor uns her. Wir in der Zentralkli­nik befürchten, dass sich die Warteliste jetzt bis ins Jahr 2021 hinein verlängert“, sagt Johannes Lutz.

Normalerwe­ise durchlaufe­n in Bad Berka pro Jahr 400 bis 500 Schmerzpat­ienten ein Assessment, etwa 250 die dreiwöchig­e Therapie. Um den jetzt entstanden­en Stau abzuarbeit­en, will die Zentralkli­nik noch mehr Assessment­s als bisher durchführe­n und ihr ambulantes Angebot ausbauen: Vorausgese­tzt, das zuständige Gesundheit­samt akzeptiert das ausgearbei­tete Hygienekon­zept, wird die Klinik ab der zweiten Jahreshälf­te Psycho- und Physiother­apien auch ambulant anbieten. „Damit können wir wahrschein­lich schon einiges abfangen, denn unsere Therapeute­n sind in der Behandlung chronische­r Schmerzpat­ienten sehr erfahren“, sagt Lutz. Im Grunde müssten die Kapazitäte­n verdoppelt und verdreifac­ht werden, zumal die psychische­n Probleme bei Patienten, die auch noch um ihre berufliche Existenz bangen, zunähmen.

Trotz Wiederaufn­ahme des Normalbetr­iebs in der Zentralkli­nik sei das natürlich nicht möglich – auch mit Blick darauf, dass noch nicht wieder alle Ärzte und Pflegekräf­te an ihren angestammt­en Platz zurückgeke­hrt seien und die Zentralkli­nik weiter Schwerpunk­t-krankenhau­s für die Behandlung von Covid-19-patienten bleibt.

Jede Woche kommen um die zehn Patienten in die Schmerz-ambulanz Entscheide­nd sei, verzweifel­ten Patienten eine Perspektiv­e aufzuzeige­n, betont Johannes Lutz. Es sei zwar schwierig, bei einem Anrufer am Telefon zu beurteilen, ob es sich wirklich um eine akute Verschlimm­erung eines chronische­n Schmerzges­chehens handelt oder nicht.

Wenn Patienten aber sagten, es gehe gar nicht mehr, werde ihnen geraten, entweder sofort ihren behandelnd­en Arzt aufzusuche­n oder auch in die Notaufnahm­e zu gehen. „Und dann muss man differenzi­eren: Haben wir ein akutes Geschehen, bei dem wir sofort intervenie­ren müssen, oder ist es etwas, bei dem wir einen Kurztermin zum Beispiel in der Schmerz-ambulanz der Klinik vergeben können?“Dort, sagt Lutz, stellen sich im Schnitt pro Woche zehn neue Patienten vor.

Die Zentralkli­nik ist Johannes Lutz zufolge landesweit die einzige, die konsequent eine dreiwöchig­e stationäre multimodal­e Therapie anbietet. Kürzere stationäre Angebote, teils auch mit etwas anderen Konzepten, gebe es unter anderem in Stadtroda, Weißenburg, Erfurt und Meiningen.

Daneben vernetzt das Unikliniku­m Jena in seiner seit sieben Jahren bestehende­n Schmerz-tagesklini­k die verschiede­nen medizinisc­hen Fachgebiet­e – Ärzte, Psychologe­n und Physiother­apeuten – miteinande­r. Auch in Jena haben sich die ohnehin langen Wartezeite­n in der Tagesklini­k wegen der Coronakris­e verlängert.

Ende Juni wurde dort die Therapie mit reduzierte­r Teilnehmer­zahl und umfangreic­hem Hygienekon­zept wieder aufgenomme­n. Bis dahin könnten tagesklini­sche Patienten nur via Telefon- und Videosprec­hstunden betreut werden.

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FOTO: MARCO KNEISE Johannes Lutz ist Chefarzt im Zentrum für interdiszi­plinäre Schmerzthe­rapie in Bad Berka.

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