Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)
Heute schon geküsst?
Ouvertüre, Probefahrt oder Selbstzweck – ein Lippenbekenntnis kann viele Bedeutungen haben. Und es kann einiges schiefgehen. Ein Überblick zum Tag des Kusses
Ungefähr 100.000 Mal küsst der Mensch in seinem Leben. Einige dieser Lippenbekenntnisse vergisst man nie. Auch im kollektiven Gedächtnis gibt es Küsse, die stark mit Bedeutung aufgeladen sind. Als ein Matrose zum Kriegsende 1945 eine Krankenschwester auf dem New Yorker Times Square küsst, ist das ein Symbol für Hoffnung und Neuanfang. Leonardo Dicaprio und Kate Winslet überwinden 1997 mit ihrem Kuss auf dem Bug der „Titanic“Klassenunterschiede und letztlich auch den Tod. Einen kühlen Kuss als kalkulierten Skandal tauschen Madonna und Britney Spears 2003 auf der Bühne der Mtv-awards aus.
Der 6. Juli ist der Tag des Kusses – ein Zeichen dafür, dass der Kuss eine enorme Präsenz hat. In der Öffentlichkeit wird so viel geküsst wie nie, eine Folge der gelockerten Sexualmoral. Für viele ist der Kuss längst nicht nur Anbahnung des Ernstfalls, sondern Selbstzweck. Der Kuss gilt als der lustige kleine Bruder der Sexualität. Und so wird – zumindest war es vor Corona so – auf Partys unverbindlich herumgeknutscht, ohne dass man am nächsten Tag ein Frühstück machen muss.
Die Inflation an Küssen bedeutet aber gleichzeitig auch ihre Abwertung. Gerade der erste Kuss verliert an Symbolwirkung. In alten Hollywood-filmen war er noch das mächtige Signal einer entflammenden Liebe: So packte Clark Gable Filmpartnerin Vivien Leigh in „Vom Winde verweht“mit den Worten „Schluss mit dem Gerede“und küsste sie vor der Kulisse des brennenden Atlanta. Das war der Punkt ohne Wiederkehr: Jetzt, so wusste der Zuschauer, hatte sich Abneigung in Leidenschaft verwandelt.
Stattdessen erhält der Kuss heute eine neue Bedeutung als Leistungsshow. Er wird zu einer weiteren Hürde im knallharten Auswahlverfahren,
das sich harmlos „Dating“nennt. Neben Aussehen, Einkommen, Stil, Bildungsniveau und Hobbys muss eben auch die Kusstechnik eines möglichen Partners stimmen, bevor man sicher ist: „Es ist ein Match!“Der erste Kuss – einst bereits ein Siegel – wird damit zur Probefahrt vor der Kaufentscheidung. Kuppelsendungen wie „Bachelor“, „Prince Charming“oder „Kiss Bang Love“machen es zur Gaudi der Zuschauer vor: Es wird quer durch alle Kandidatinnen oder Kandidaten geknutscht und die Qualität des Kusses anschließend vor der Kamera zerpflückt.
Dabei ergibt der Kuss als Test durchaus Sinn, erklärt Flirtcoach Horst Wenzel: „Beim Kuss checkt die Natur ab, ob die genetischen Codes im Speichel miteinander kompatibel sind.“Ob ein Kuss funktioniere, sei wortwörtlich Geschmackssache. Das bestätigt auch Kussforscher Wolfgang Kröger: „Beim Küssen muss man sich auf sein Gegenüber einlassen, spürt sein Tempo, seinen Geruch und Geschmack. Beim Küssen merkt man, ob das Gegenüber einfühlsam ist und soziale Antennen hat.“
Bitte keine
Propellerküsse
Wie aber besteht man die Kussprüfung? „Propellerküsse mag wohl niemand“, sagt Wenzel. „Viele knutschen auch aneinander vorbei, weil sie ihre Geschwindigkeiten nicht synchronisieren.“Wer wissen will, wie es gar nicht geht, schaut sich „Dumm und dümmer“an: Jim Carrey küsst hier Lauren Holly, als wolle er eine Ertrunkene wiederbeleben. Viel besser: „Mit den Lippen zuhören, die Bewegungen
des anderen spiegeln, mit dem ganzen Körper küssen und immer wieder das Tempo drosseln“, empfiehlt Wenzel.
Bestes Anschauungsmaterial: Marilyn Monroe, die Tony Curtis in „Manche mögen‘s heiß“Kussunterricht erteilt. In dieser Szene liegt mehr Knistern als in allen Teilen von „50 Shades of Grey“zusammen.
Bei seinen Klienten spürt Wenzel derzeit große Verunsicherung, ob sie wegen Corona überhaupt noch küssen sollen. Wohl dem, der im eigenen Haushalt küsst. Damit Küsse auch in langjährigen Partnerschaften nicht ihre Magie verlieren, empfiehlt der Coach, Kussroutine zu vermeiden: „Es ist hilfreich, sich immer wieder an anderen Orten, zu anderen Zeiten und auf andere Weise zu küssen – und dem Küssen viel Zeit einzuräumen.“