Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)

Heute schon geküsst?

Ouvertüre, Probefahrt oder Selbstzwec­k – ein Lippenbeke­nntnis kann viele Bedeutunge­n haben. Und es kann einiges schiefgehe­n. Ein Überblick zum Tag des Kusses

- Von Oliver Stöwing

Ungefähr 100.000 Mal küsst der Mensch in seinem Leben. Einige dieser Lippenbeke­nntnisse vergisst man nie. Auch im kollektive­n Gedächtnis gibt es Küsse, die stark mit Bedeutung aufgeladen sind. Als ein Matrose zum Kriegsende 1945 eine Krankensch­wester auf dem New Yorker Times Square küsst, ist das ein Symbol für Hoffnung und Neuanfang. Leonardo Dicaprio und Kate Winslet überwinden 1997 mit ihrem Kuss auf dem Bug der „Titanic“Klassenunt­erschiede und letztlich auch den Tod. Einen kühlen Kuss als kalkuliert­en Skandal tauschen Madonna und Britney Spears 2003 auf der Bühne der Mtv-awards aus.

Der 6. Juli ist der Tag des Kusses – ein Zeichen dafür, dass der Kuss eine enorme Präsenz hat. In der Öffentlich­keit wird so viel geküsst wie nie, eine Folge der gelockerte­n Sexualmora­l. Für viele ist der Kuss längst nicht nur Anbahnung des Ernstfalls, sondern Selbstzwec­k. Der Kuss gilt als der lustige kleine Bruder der Sexualität. Und so wird – zumindest war es vor Corona so – auf Partys unverbindl­ich herumgeknu­tscht, ohne dass man am nächsten Tag ein Frühstück machen muss.

Die Inflation an Küssen bedeutet aber gleichzeit­ig auch ihre Abwertung. Gerade der erste Kuss verliert an Symbolwirk­ung. In alten Hollywood-filmen war er noch das mächtige Signal einer entflammen­den Liebe: So packte Clark Gable Filmpartne­rin Vivien Leigh in „Vom Winde verweht“mit den Worten „Schluss mit dem Gerede“und küsste sie vor der Kulisse des brennenden Atlanta. Das war der Punkt ohne Wiederkehr: Jetzt, so wusste der Zuschauer, hatte sich Abneigung in Leidenscha­ft verwandelt.

Stattdesse­n erhält der Kuss heute eine neue Bedeutung als Leistungss­how. Er wird zu einer weiteren Hürde im knallharte­n Auswahlver­fahren,

das sich harmlos „Dating“nennt. Neben Aussehen, Einkommen, Stil, Bildungsni­veau und Hobbys muss eben auch die Kusstechni­k eines möglichen Partners stimmen, bevor man sicher ist: „Es ist ein Match!“Der erste Kuss – einst bereits ein Siegel – wird damit zur Probefahrt vor der Kaufentsch­eidung. Kuppelsend­ungen wie „Bachelor“, „Prince Charming“oder „Kiss Bang Love“machen es zur Gaudi der Zuschauer vor: Es wird quer durch alle Kandidatin­nen oder Kandidaten geknutscht und die Qualität des Kusses anschließe­nd vor der Kamera zerpflückt.

Dabei ergibt der Kuss als Test durchaus Sinn, erklärt Flirtcoach Horst Wenzel: „Beim Kuss checkt die Natur ab, ob die genetische­n Codes im Speichel miteinande­r kompatibel sind.“Ob ein Kuss funktionie­re, sei wortwörtli­ch Geschmacks­sache. Das bestätigt auch Kussforsch­er Wolfgang Kröger: „Beim Küssen muss man sich auf sein Gegenüber einlassen, spürt sein Tempo, seinen Geruch und Geschmack. Beim Küssen merkt man, ob das Gegenüber einfühlsam ist und soziale Antennen hat.“

Bitte keine

Propellerk­üsse

Wie aber besteht man die Kussprüfun­g? „Propellerk­üsse mag wohl niemand“, sagt Wenzel. „Viele knutschen auch aneinander vorbei, weil sie ihre Geschwindi­gkeiten nicht synchronis­ieren.“Wer wissen will, wie es gar nicht geht, schaut sich „Dumm und dümmer“an: Jim Carrey küsst hier Lauren Holly, als wolle er eine Ertrunkene wiederbele­ben. Viel besser: „Mit den Lippen zuhören, die Bewegungen

des anderen spiegeln, mit dem ganzen Körper küssen und immer wieder das Tempo drosseln“, empfiehlt Wenzel.

Bestes Anschauung­smaterial: Marilyn Monroe, die Tony Curtis in „Manche mögen‘s heiß“Kussunterr­icht erteilt. In dieser Szene liegt mehr Knistern als in allen Teilen von „50 Shades of Grey“zusammen.

Bei seinen Klienten spürt Wenzel derzeit große Verunsiche­rung, ob sie wegen Corona überhaupt noch küssen sollen. Wohl dem, der im eigenen Haushalt küsst. Damit Küsse auch in langjährig­en Partnersch­aften nicht ihre Magie verlieren, empfiehlt der Coach, Kussroutin­e zu vermeiden: „Es ist hilfreich, sich immer wieder an anderen Orten, zu anderen Zeiten und auf andere Weise zu küssen – und dem Küssen viel Zeit einzuräume­n.“

 ?? FOTO: IMAGO,PA(4),AP(2),GETTY(2) ?? Küsse, die man nicht vergisst (v. l.): Leonardo Dicaprio und Kate Winslet in „Titanic“(1997); Michail Gorbatscho­w und Erich Honecker beim sozialisti­schen Bruderkuss (1989); „Susi und Strolch“(1955); Britney Spears und Madonna (2003); Vivien Leigh und Clark Gable in „Vom Winde verweht“(1939); Donald Trump und Angela Merkel (2019); Tony Curtis und Marilyn Monroe in „Manche mögen’s heiß“(1959); Kuss am Times Square (1945).
FOTO: IMAGO,PA(4),AP(2),GETTY(2) Küsse, die man nicht vergisst (v. l.): Leonardo Dicaprio und Kate Winslet in „Titanic“(1997); Michail Gorbatscho­w und Erich Honecker beim sozialisti­schen Bruderkuss (1989); „Susi und Strolch“(1955); Britney Spears und Madonna (2003); Vivien Leigh und Clark Gable in „Vom Winde verweht“(1939); Donald Trump und Angela Merkel (2019); Tony Curtis und Marilyn Monroe in „Manche mögen’s heiß“(1959); Kuss am Times Square (1945).
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