Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)
Europa wird alt – und schrumpft
Alarmierender Demografiebericht der Kommission stellt die globale Bedeutung des Kontinents in Frage
Wenn es um Europas globale Rolle geht, zeigt Kanzlerin Angela Merkel großen Ehrgeiz: Die EU müsse „Stabilitätsanker“in der Welt sein und eine „gestaltende Macht“, fordert die Kanzlerin. Die Eu-kommission kündigt passend schon „geostrategische“Ambitionen an, um für ein „stärkeres Europa in der Welt“zu sorgen. Europa, der neue Spieler auf der Weltbühne? Eile wäre geboten, mehr Engagement auch: Denn ein neuer Demografiebericht der Kommission zeigt, wie die Bevölkerung auf dem Kontinent schrumpft – und damit in Wahrheit auch Europas Bedeutung in der Welt.
„Der Rückgang ist dramatisch“, sagt Kommissionsvizepräsidentin Dubravka Suica, die für den Bericht verantwortlich ist, unserer Redaktion. „Noch in den 60er-jahren machten wir in Europa zwölf Prozent der Weltbevölkerung aus, jetzt sind es sechs Prozent – und in einigen Jahrzehnten nur noch vier Prozent“, zitiert sie aus dem Bericht. Die Entwicklung könne Europas Position in der Welt verändern und werde auch den Anteil an der globalen Wirtschaftsleistung verringern, sagt Suica. Es ist nicht die einzige Herausforderung. Europa ist der am schnellsten alternde Kontinent der Welt. „Die Demografie wird Einfluss auf jeden Bereich des Lebens haben – wie wir arbeiten, zusammenleben, wohnen, auf Wohlstand, Gesundheitssystem und Wirtschaft“, sagt die Vizepräsidentin. Deutschland ist zum Teil besonders betroffen. Die Trends:
Steigende Lebenserwartung
Die Europäer können auf ein immer längeres Leben hoffen. Innerhalb der vergangenen fünf Jahrzehnte ist die durchschnittliche Lebenserwartung schon um zehn Jahre gestiegen, sie liegt heute bei 78,2 Jahre für Männer und 83,7 Jahren für Frauen. Für das Jahr 2070 sagt der Report eine Lebenserwartung für Frauen von 90,3 Jahren voraus, für Männer von
86,1 Jahren. Die Unterschiede zwischen den Eustaaten sind allerdings groß – und Deutschland schneidet gar nicht so gut ab, liegt heute mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 81 Jahren nur gerade im Eu-mittelfeld. 83,5 Jahre sind es bei Spitzenreiter Spanien, nur etwas weniger in Italien – und 75 Jahre bei Schlusslicht Bulgarien.
Bevölkerungsschwund
Lange Jahre ist die Zahl der Europäer gestiegen, derzeit leben in der EU 447 Millionen Menschen. In den nächsten Jahren könnten es noch gut zwei Millionen mehr werden, aber ab 2030 beginnt unaufhaltsam der Abstieg: Innerhalb weniger Jahrzehnte wird die Eu-bevölkerung laut Kommissionsbericht um fünf Prozent auf 424 Millionen im Jahr 2070 sinken. Europa ist damit die einzige Weltregion, deren Bevölkerung abnimmt. Konsequenz: Weniger als vier Prozent aller Menschen werden 2070 noch in der EU leben. Der Anteil Afrikas an der Weltbevölkerung dürfte von 9 auf 32 Prozent steigen; Asien bleibt das große Zentrum mit über der Hälfte aller Menschen, wenn auch mit leicht sinkender Tendenz. Der Report skizziert die ökonomischen Folgen: Der Anteil Europas an der globalen Wirtschaftsleistung, der von 2004 bis 2018 schon von 18,3 auf 14,3 Prozent gesunken ist, dürfte weiter zurückgehen – angesichts der rückläufigen Zahl von Menschen im Erwerbsalter bestehe das Risiko, dass sich dieser Trend sogar noch beschleunige. Zwar listet der Bericht die gängigen Gegenstrategien auf, von besserer Ausbildung bis zur stärkeren Erwerbstätigkeit von Frauen und Älteren, doch verweist er auf ein gravierendes Problem: Selbst die derzeitige Wirtschafts-wachstumsrate von 1,3 bis 1,4 Prozent dürfte nur mit stärker steigender Produktivität zu halten sein. Klimaschutz und Digitalisierung sollen jetzt neue Wachstumstreiber werden, so der Report. Suica mahnt aber auch: „Europa muss vereint, stärker und strategischer agieren, das wird durch die Demografie noch viel wichtiger.“
Altes Europa
Das mittlere Alter der Eu-bevölkerung liegt heute schon bei 45 Jahren, bis 2070 dürfte es auf 49 Jahre steigen. Fast jeder siebte Europäer wäre dann älter als 80 Jahre. „Europa ist nicht der einzige Kontinent, der altert, aber der im Durchschnitt älteste“, heißt es im Report. Entscheidender Faktor für die Alterung ist die gesunkene Geburtenhäufigkeit, die jetzt bei 1,55 Kindern je Frau liegt, in Deutschland bei 1,57. Eine Geburtenrate von 2,1 würde benötigt, um die Bevölkerungszahl stabil zu halten – ein Wert, der nur sehr vereinzelt in Regionen wie dem Großraum Paris oder dem Norden Rumäniens erreicht wird. Eine besondere Dynamik erlebt Deutschland: Der Osten der Republik gehört zu den Regionen Europas mit der schnellsten Alterung der Bevölkerung in diesem Jahrzehnt.
Die neue Spaltung
Europa driftet durch die Demografie gefährlich auseinander. Zum einen verläuft die Entwicklung zwischen den Ländern unterschiedlich. Eustaaten wie Bulgarien, Rumänien, Griechenland oder Kroatien verzeichnen seit Jahren einen Bevölkerungsschwund, der unvermindert anhalten dürfte – Bulgarien könnte bis 2050 die Hälfte seiner Einwohner verlieren. Staaten wie Dänemark und Schweden werden bis 2070 noch wachsen. Deutschland und andere Staaten Mitteleuropas werden zunächst eine leichte Zunahme, später eine Schrumpfung erleben.
Zweiter Trend: Mehr Menschen ziehen in die Städte, umso weniger Einwohner und Arbeitskräfte bleiben aber auf dem Land zurück. Regionen vor allem im Baltikum, Bulgarien oder Rumänien, aber auch in Ostdeutschland droht so eine gefährliche Abwärtsspirale. Suica lässt jetzt eine europaweite Strategie für die ländlichen Regionen erarbeiten, sagt aber auch: „Es gibt keine einheitliche Lösung für alle.“
Corona als Chance
Die Corona-pandemie bietet aus Sicht der Kommission neue Chancen, die Demografie-krise zu mildern. Zum einen erhöhe Corona die Attraktivität ländlicher Regionen, die vom Virus ja weniger betroffen seien. Das Leben dort könne Vorteile bieten, bald auch mit Blick auf den Klimawandel. Zum anderen könne das Corona-wiederaufbauprogramm der EU mit seinen Milliardengeldern helfen, den Wandel zu gestalten, etwa durch neue Jobs für junge Leute, meint Suica: „Wir brauchen eine starke Wirtschaft und einen starken Arbeitsmarkt, um die Herausforderungen für die Sozialsysteme zu bewältigen.“