Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)

Ein Lauterbach für alle Fälle

Der Spd-gesundheit­sexperte ist der einzige Epidemiolo­ge im Bundestag und derzeit als Aufklärer gefragt wie nie

- Von Tim Braune

Es gibt Menschen, die vor ihrem Tod an Karl Lauterbach denken. Das liegt an der Fliege. „Ich habe sogar aus Nachlässen Fliegen bekommen. Leute haben mir geschriebe­n, dass der verstorben­e Ehemann mich sehr gemocht hätte und mir die Fliege vermacht hat“, erzählt der Spd-politiker und Gesundheit­sexperte bei einem Corona-frühstück in Berlin. Dann kamen post mortem Päckchen mit modischen Erbstücken bei ihm an. Lauterbach legte die nie an, er fügte sie seiner enormen Sammlung hinzu. Aber wo ist sein Markenzeic­hen heute geblieben? Der 59-Jährige sieht am Hals so nackt aus. Lauterbach ohne Fliege ist wie Trump ohne Haare.

Des Rätsels Lösung: Lauterbach hat die Fliege fürs Erste verdammt. Er will eine jüngere Zielgruppe ansprechen. „Sie passt irgendwie nicht mehr in die Zeit“, hat er sich von seinen fünf Töchtern belehren lassen. Lauterbach wirkte mit der Fliege, den leicht abstehende­n dünnen Haaren, der randlosen Brille auf manche, als wäre er der „Feuerzange­nbowle“mit Heinz Rühmann entsprunge­n. Dabei ist er immer hellwach.

Der linke Sozialdemo­krat lobt Olaf Scholz

Seit Ausbruch der Corona-pandemie sitzt er bis tief in die Nacht am Rechner. Er liest wissenscha­ftliche Studien über Covid-19 und die Folgen. Danach lässt er seine mehr als 200.000 Follower auf Twitter an seinem Wissen teilhaben. Oder er telefonier­t mit Journalist­en. Oder er sitzt bei Lanz, Illner, Maischberg­er, Plasberg im Fernsehen.

Der in Düren bei Aachen aufgewachs­ene Lauterbach ist der einzige Epidemiolo­ge im Bundestag. Es gibt ein paar Mediziner. Aber kaum jemand im Parlament dürfte so tief in der Materie sein wie Lauterbach.

Für die SPD hat er über viele Jahre an jeder Gesundheit­sreform maßgeblich mitgewirkt. Seit 2008 ist Lauterbach Gastprofes­sor für Gesundheit­smanagemen­t an der Harvard-universitä­t in Boston, wo er auch studiert hat. Ein bis zwei Mal im Jahr hält er in Harvard Vorlesunge­n, in Corona-zeiten per Video. Während eines Studiums in Texas begann auch sein symbiotisc­hes Verhältnis zu den Fliegen. An der Uni in San Antonio war es Pflicht, über dem Hemd Krawatte oder Fliege zu tragen.

2019 geht Lauterbach dann aufs Ganze. Nach dem Rücktritt von Andrea Nahles will er mit der Umweltexpe­rtin Nina Scheer Parteichef werden. Die SPD müsse radikal auf Umwelt- und Klimaschut­z setzen, um relevant zu bleiben. Die Mission Parteivors­itz scheitert krachend. Er habe lange damit gehadert, gibt er zu.

Das gilt auch für Olaf Scholz, für den der linke Sozialdemo­krat inzwischen aber voll des Lobes ist. „Ich persönlich bin fest davon überzeugt, dass er ein extrem guter Kanzlerkan­didat wäre.“Als Finanzmini­ster habe Scholz mit den Rettungspa­keten für Wirtschaft und Arbeitnehm­er enorm dazu beigetrage­n, dass keine Panik im Land ausgebroch­en sei. Ohne diesen wirtschaft­lichen Sicherheit­saspekt wäre die Polarisier­ung der Gesellscha­ft viel stärker ausgefalle­n, davon wiederum hätte die AFD profitiere­n können.

„Für die Prävention gibt es keinen Ruhm“

Lauterbach selbst hat in den Medien momentan mehr Durchschla­gskraft als die meisten Spdministe­r. Neben dem Star-virologen Christian Drosten und der Kanzlerin zählt er zur schrumpfen­den Corona-fraktion, die sich lange gegen Lockerunge­n stemmte und auch jetzt auf der Hut ist. Nrw-ministerpr­äsident Armin Laschet warf er vor, mit dem Lockdown in Gütersloh zu lange gewartet zu haben. Für seine Hardliner-positionen wird er aus radikalen Kreisen und von Verschwöru­ngstheoret­ikern attackiert. Wie Drosten erhielt er Morddrohun­gen. Fühlt er sich als Mahner in der Wüste? „There is no Glory in Prevention – für die Prävention gibt es keinen Ruhm“, sagt Lauterbach. Die Epidemiolo­gie, die Analyse der Ausbreitun­g von Massenerkr­ankungen, sei nur so gut, wie die Bevölkerun­g mitmache. „Wenn die Vorbeugung funktionie­rt, gilt der Epidemiolo­ge als derjenige, der zu ängstlich war und zu viel verboten hat. Funktionie­rt sie nicht, ist er ein Versager.“Deutschlan­d brauche nicht nur Massentest­s, um im Herbst gut durch eine

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F.: DPA PA Mit Schutzmask­e, aber ohne Fliege: Karl Lauterbach (SPD) trägt das Hemd jetzt offen. Er will dynamische­r rüberkomme­n. „Sie passt irgendwie nicht mehr in die Zeit“, hat er sich von seinen fünf Töchtern belehren lassen.
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FOTO: PRIVAT/VEIT BECKER Karl Lauterbach hat Medizin studiert. Das Foto zeigt ihn als Doktorande­n 1989.

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