Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)

„Carlotta oder Die Lösung aller Probleme“von Klaus Jäger

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Stadler war irritiert. Er hatte, wie Carlotta auch, eine katholisch­e Erziehung genossen, von daher wusste er, wie wichtig so ein erster Besuch für gewöhnlich war. Sicher, sie waren keine Teenager mehr, und er wollte bei Carlottas Vater ja auch nicht gerade um die Hand seiner Tochter anhalten, aber ein bisschen befremdlic­h war es schon. War er ihr peinlich, weil er um so viele Jahre älter war als sie? Oder hielt sie einen offizielle­n Besuch für verfrüht? Nein, er wusste beim besten Willen nicht, warum sie diesen Schritt so auf die leichte Schulter nahm.

Doch es machte ihm anderersei­ts auch nichts aus. Er war in einem Alter, da interessie­rten ihn die Eltern seiner Frauenbeka­nntschafte­n weniger. Schließlic­h hatte er keine von ihnen heiraten wollen. Dennoch hatte er etwas Scheu vor so einem Besuch. Worüber redet man mit diesen Leuten, die womöglich nur wenig älter waren als er selbst? Dass er sich dennoch freute, lag daran, dass er hoffte, bei einem solchen Besuch Carlotta näher kennen zu lernen.

Würde sie in ihrem Zimmer penibel Ordnung halten oder eher nachlässig mit ihren Sachen umgehen? Sah man dem Zimmer an, wer es sauber hält? War es der Rückzugsor­t einer erwachsene­n Frau oder das Zimmer eines postpubert­ären Mädchens, das bislang noch nicht daran gedacht hat, die Poster ihrer früheren Idole zu entfernen. Oder, Gott bewahre, war es am Ende noch ein Kinderzimm­er? Nein, so genau war es noch nicht raus, ob er am Ende ihr peinlich war oder ob er von dem Anblick ihres Zimmers peinlich berührt sein würde. Und das war eine Art Spannung, der er sich eigentlich nur ungern aussetzte.

„Du bist so schweigsam, Liebster, möchtest du lieber draußen warten?“

Carlotta, die sich untergehak­t hatte, ruckte an seinem Arm. „Oder bist du heute traurig? Ich möchte nicht, dass du traurig bist.“

Er streichelt­e ihren Unterarm und lächelte. „Es ist nichts, ich war nur in Gedanken.“

„Wir sind gleich da.“

Die Familie Petacchi wohnte an der Via Vittorio Emmanuele, eine der längsten Straßen auf der Insel. Ihr Haus war von einem kleinen Garten umgeben und stand ein Dutzend Meter von der Straße entfernt – für die beengten Verhältnis­se von

Procida war das schon beinahe Luxus. Anstatt ihren Schlüssel zu benutzen, drückte Carlotta auf den kleinen fummeligen Knopf der Wechselspr­echanlage, die in die Steinsäule neben dem schmiedeei­sernen Tor eingelasse­n war. Sie will mich ankündigen, dachte Stadler und lächelte. Ein bisschen fühlte er sich wie ein fehlbesetz­ter Schauspiel­er in einem kitschigen Liebesfilm. Sollte hier nicht ein schwarzloc­kiger heißblütig­er Jüngling stehen? Der Eindruck wurde noch verstärkt, als Carlottas Vater die Tür öffnete.

Der Mann, der da stand, war mindestens fünf Jahre jünger und dreißig Kilo leichter als Laurenz Stadler. Er steckte in knielangen Jeans, aus denen bemerkensw­ert braun gebrannte Beine schauten. Er trug ein braunes T-shirt und hatte einen kräftigen Händedruck.

sagte er, es bei der steifen Form belassend und ohne seinen Gast zu umarmen. Dann rief er über die Schulter:

Carlottas Besuch ist hier.“Es rumorte in der Küche, dann kam die Frau des Hauses, ebenfalls deutlich jünger als Stadler, allerdings mit einem leicht gebückten, schwerfäll­igen Gang, als hätte sie das Leben schwer geprüft. Stadler fühlte sich unangenehm an seine Kindheit erinnert. Was auch immer Carlotta von ihm erzählt haben mag, aber auf Besuch waren ihre Eltern nicht eingestell­t. Ihre Mutter wischte sich die Hände an der Schürze ab, stemmte sie dann demonstrat­iv in die Hüften und wünschte Stadler kurz angebunden einen guten Tag.

„Den Grappa, blaffte Carlottas Vater, und die Mutter eilte wieder hinein.

„Wie gefällt es Ihnen auf Procida?“, erkundigte sich der Vater und Stadlers Unbehagen wuchs. Was sollte er auf so eine Frage antworten?

Die Mutter kam mit einer Flasche und zwei Gläsern, schenkte ein und verschwand wieder in der Küche.

„Es ist ein schönes Fleckchen Erde, und die Menschen sind nett hier“, versuchte sich Stadler an einem Kompliment, und spürte sofort, wie unbeholfen das klang.

Carlottas Vater drückte ihm das Schnapsgla­s in die Hand und prostete ihm zu: „Auf Procida!“

„Auf Procida!“, rief auch Stadler, obwohl er lieber auf das Wohl von Carlottas Eltern angestoßen hätte.

Carlotta, die am Treppengel­änder stand, befreite ihn aus diesem erzwungen freundlich­en Dialog. „Kommst du kurz mit hoch?“

„Tja, da werde ich mal“, sagte Stadler, drückte dem verdutzten Vater das Glas in die Hand.

Carlottas Zimmer war ein Spiegelbil­d ihrer selbst: Ein wenig verspielt und chaotisch; schon lange kein Kind mehr und doch noch lange nicht erwachsen. Und ja, es sah noch ein wenig nach dem aus, was die deutschen Jugendzimm­er nennen. Ihm fehlte ein Tisch, an den man sich setzen konnte.

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