Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)
Naturschutz in Deutschland nicht wichtig?
Mehr als 4600 sensible Gebiete gibt es hierzulande. Nicht immer profitieren Tiere und Pflanzen davon
Seit vor zwei Jahren die Rinder verschwunden seien, könne man zusehen, wie es dem Gebiet immer schlechter gehe, sagt Martin Musche. Ohne die Tiere würden die Sträucher nicht mehr klein gehalten, alles wuchere zu, seltene Schmetterlinge und Insekten verschwänden. Hier an den Hängen des Saaletals, 20 Kilometer nördlich von Halle, liegt vor Musche ein Stück Land – halb Wiese, halb Gestrüpp, zwischendurch ein paar alte Apfel- und Aprikosenbäume. „Die Sträucher werden ständig dichter, die Robinien immer größer, irgendwann wird’s Wald. Dann ist die Fläche verloren“, sagt er.
Musche ist Schmetterlingsforscher am Helmholtz-zentrum für Umweltforschung in Halle und beobachtet seit Jahren, wie hier immer weniger Himmelblaue, Silbergrüne und Geißklee-bläulinge fliegen, drei Tagfalter, die in weiten Teilen Deutschlands gefährdet sind. Und das, obwohl die alte Streuobstwiese seit 20 Jahren unter Naturschutz steht, seit zehn Jahren sogar unter dem der Europäischen Union. Sie ist eines von mehr als 27.000 sogenannten Fauna-florahabitaten, kurz FFH, die Eu-weit in den vergangenen fast 30 Jahren eingerichtet worden sind, um bedrohte Tiere, Pflanzen und Lebensräume zu schützen. In Deutschland sind es 4606. Wälder, Wiesen, Moore, selbst einzelne Kirchtürme als Winterquartier für Fledermäuse, aber auch Äcker, auf denen etwa der Feldhamster vorkommt – fast zehn Prozent des Landes, knapp 30 Prozent der Wasserfläche wurden seitdem in Deutschland unter Schutz gestellt.
Das Problem: Was man hier im Osten Sachsen-anhalts beobachten kann, zeigt sich bundesweit auch an anderen Stellen. Vielen Tier- und Pflanzenarten geht es in den geschützten Gebieten oft nicht besser als außerhalb davon. Musche und seine Kollegen haben 104 Tagfalterarten untersucht und festgestellt, dass nur ein Viertel davon auf den geschützten Flächen häufiger vorkommt. Der Rest verharrt auch in den Schutzzonen auf seinem Niveau, häufig einem niedrigen. Fast die Hälfte der etwa 190 heimischen Tagfalterarten gilt als gefährdet. 63 Prozent aller Ffh-geschützten Tiere und Pflanzen und 69 Prozent der Lebensräume sind hierzulande in einem unzureichenden oder schlechten Zustand, so ein aktueller Bericht der Bundesregierung zur Lage der Natur.
Flächen werden zu viel oder zu wenig bewirtschaftet
„Wirksam sind die Schutzgebiete tatsächlich nicht unbedingt, vor allem nicht für Schmetterling und viele andere Insekten“, sagt auch Musche. Warum? „Weil viele mangelhaft behandelt werden.“Sie werden entweder zu wenig oder zu viel bewirtschaftet – zu viel gedüngt, zu häufig gemäht oder sie sind mit zu viel Stickstoff von umliegenden Feldern belastet.
Wie hier, im Falle der Streuobstwiese im Saaletal. Die müsste einmal im Jahr gemäht werden, Tiere müssten darauf weiden. Passiert das nicht, verflechten sich laut Musche
die Gräser, ein undurchdringlicher Filz entsteht. Offene Stellen am Boden, die viele Falter brauchen, um sich aufzuwärmen oder auf Weibchen zu warten, gibt es kaum noch. Die Pflanzen werden größer, sorgen für mehr Schatten und Kälte. Wärmeliebende Gewächse verschwinden – und damit die Falter.
Auch wenn die Eu-schutzgebiete hierzulande einige Erfolge aufzuweisen haben – Seeadler, Kranich, Wildkatze und Biber geht es seit 1992 deutlich besser; Millionen Zugvögel wären ohne die Obhut auf ihren Routen in den Süden zum Abschuss freigegeben, mehr Moore und Feuchtgebiete trockengelegt worden. In der Gesamtschau geht Deutschland so nachlässig mit seinen sensiblen Zonen um, dass sich sogar die Eu-kommission eingeschaltet hat. Vor fünf Jahren läutete sie bereits ein Verfahren wegen Vertragsverletzung ein, Anfang des Jahres erhöhte sie den Druck noch einmal. Für die Schutzgebiete, so die Kommission, fehlten ausreichend messbare Ziele, die Qualität der Gebiete leide. Ändert sich daran nichts, drohen dem Land Strafen, wie sie bereits bei der Verletzung der Düngeverordnung im Raum standen. Damals war es um 860.000 Euro gegangen, pro Tag.
Warum nicht mehr getan werde? Weil das Personal fehle, um Regeln umzusetzen und für Konsequenzen zu sorgen, wo etwa Wiesen unerlaubt in Äcker umgewandelt würden, sagt Magnus Wessel von der Naturschutzorganisation BUND. Oder es mangele am Willen, etwas zu ändern.
Landbesitzer
Deutlich wird das für Wessel an den offiziellen Vorgaben für Ffhflächen. Demnach muss dort lediglich für den „guten Erhaltungszustand“gesorgt werden, es gilt das „Verschlechterungsverbot“. Für Ackerflächen bedeutet das nach Angaben vieler zuständiger Landesministerien: Die „gute fachliche Praxis“reicht meist aus. Sprich: das, was generell bislang auf dem Acker erlaubt ist. Selbst der Bericht zur Lage der Natur hat jedoch festgestellt, dass Dünger und Pestizide wesentlich für den Artenschwund verantwortlich sind.
Auf Nachfrage weist der Deutsche Bauernverband (DBV) die Kritik von sich. „Die meisten Ffhgebiete sind ja erst durch die Landwirtschaft entstanden, nach ebendieser Praxis“, macht Generalsekretär
Bernhard Krüsken klar. „Inakzeptabel“sei es, die Landwirtschaft allein für den Zustand von Arten und Lebensräumen verantwortlich zu machen, die Flächenversiegelung oder den Klimawandel dagegen auszuklammern. Zudem, so Krüsken, müsse es einen „angemessenen Ausgleich“für die entstehenden Nachteile geben.
Dem stimmt auch Bund-experte Wessel zu. „Die Bauern müssen dafür bezahlt werden, auf maximale Erträge zugunsten der Natur zu verzichten.“Zwar gebe es schon entsprechende Zahlungen, die seien aber aufwendig zu beantragen und gälten oft nur für kurze Zeit. „Da braucht’s mehr Planungssicherheit“, sagt Wessel. Eines sei aber auch klar: „Eine Trennung in Schmutz- und Schutzgebiete darf es nicht geben.“
Um bedrohte Arten zu schützen, reiche es nicht aus, einfach mehr für die Ffh-gebiete zu tun. Viele dieser Flächen seien zu klein, um den Tieren ausreichend große Lebensräume zu bieten. Zu groß sei die Menge an Dünger und Pestiziden aus umliegenden Äckern. „Wir müssen insgesamt zu einer verträglicheren Landwirtschaft gelangen.“
Was das bedeuten könnte, zeigt sich auch auf der alten Streuobstwiese. Die Tiere waren hier verschwunden, weil sich deren Haltung nicht mehr gelohnt hatte. „Würde der Naturschutz mehr honoriert, könnte es sich auszahlen, hier wieder alte Rindersorten zu halten“, sagt Martin Musche.