Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)
Sie wollen die 30-Stunden-Woche
Um den Pflegenotstand zu beseitigen, schlägt die Thüringer SPD eine radikale Lösung vor
Erfurt/Eisenach/Jena. Die Thüringer SPD wartet mit einem kühnen Vorschlag zur Beseitigung des Pflegenotstands auf: der 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich. Anderenfalls werde sich die Pflegekrise in Deutschland weiter verschärfen. Wir sprachen darüber mit Cornelia Klisch, Ärztin und gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Thüringer Landtag, Tina Rudolph, Ärztin, stellvertretende Landesvorsitzende der SPD-Arbeitsgemeinschaft für Gesundheit (ASG) und Bundestagskandidatin für den Wahlkreis 190 (Eisenach, Wartburgkreis, Unstrut-Hainich), sowie Birgit Green, Pflegefachkraft am Universitätsklinikum Jena (UKJ).
Weshalb startet die Thüringer SPD diese Initiative? Ist das nicht ein Thema, das von der Bundespolitik angepackt und von den Tarifpartnern umgesetzt werden müsste?
Manche Dinge kann man direkt in Thüringen angehen, andere sind – so wie dieses – in der Tat Bundesthemen. Das heißt aber nicht, dass wir die Diskussion nicht anstoßen könnten. Wir sind der Meinung, dass es höchste Zeit ist, diesen Impuls zu geben – sowohl in unsere eigene Partei hinein als auch nach außen, damit es dann zum Beispiel Bundesratsinitiativen oder auch Initiativen auf Parteitagen gibt. Die Situation in Thüringen ist besonders prekär, wir haben hier einen extrem hohen Leidensdruck.
Inwiefern?
Ich bin 2006 von NordrheinWestfalen nach Thüringen gezogen und war erschrocken darüber, wie schwierig die Arbeitsbedingungen hier sind. Wir wissen aus unserem Alltag, dass in Pflegeheimen 30 bis 45 Bewohner von drei Pflegekräften versorgt werden müssen und die Demenzversorgung zugenommen hat. Das heißt, dort wird dringend mehr Personal gebraucht. Der Beruf ist aber inzwischen so unattraktiv, dass es an Nachwuchs fehlt und Stellen nicht besetzt werden können.
Aber es beginnen doch jedes Jahr vergleichsweise viele junge Leute eine Ausbildung zur Pflegefachkraft?
Aus dem Berufsverband weiß ich, dass in Thüringen etwa 17 Prozent der Auszubildenden im ersten Ausbildungsjahr hinschmeißen. Die Diskrepanz zwischen ihren Vorstellungen von Pflege und der
Birgit Green ist Pflegekraft am Universitätsklinikum Jena und SPD-Mitglied.
Realität ist zu groß. In der Altenpflege ist der Anteil sogar noch höher: Gut ein Drittel bricht die Ausbildung ab. Eine 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich wäre nicht nur gerechtfertigt, weil in der Pflege eine massive Arbeitsverdichtung stattfindet. Sie würde den Beruf auch attraktiver und familienfreundlicher machen. Länder wie Dänemark, Schweden oder Frankreich haben das längst – bloß Deutschland hinkt hinterher mit dem Totschlag-Argument, dass wir dann nicht mehr genügend Pflegepersonal hätten. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Erst mit der 30Stunden-Woche werden wir genügend Personal haben.
Wie ist denn die Situation konkret an Ihrem Haus?
Wir sind in der Intensivpflege mal mit 80 Betten gestartet und jetzt bei 60 angekommen, weil es an Pflegepersonal fehlt. Es wird immer davon gesprochen, dass der „Pflexit“stattfinden wird, sobald Corona vorbei ist. Dabei ist er längst in vollem Gange. Intensivpflegekräfte verlassen den Bereich und sagen, dass sie sich den Stress trotz des guten Gehalts nicht länger antun können, weil ihre Gesundheit Schaden nimmt. Es kann nicht sein, dass jemand drei Jahre Intensivpflege macht und danach psychisch und körperlich am Ende sind. Eine 30Stunden-Woche wäre aktiver