Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)

Die vergessene­n Corona-Heldinnen

Hunderttau­sende Frauen aus Osteuropa arbeiten bei uns in der häuslichen Pflege – ihr Job ist unsicher, die Pandemie trifft sie oft hart

- Von Alessandro Peduto

Berlin. Der Applaus im Frühjahr vergangene­n Jahres schien anderen zu gelten. Als in den ersten Monaten der Pandemie Pflegekräf­te deutschlan­dweit beklatscht wurden, richtete sich der Beifall vor allem an das überlastet­e Personal in Krankenhäu­sern und Seniorenwo­hnheimen. Dass sich in der Pandemie auch Hunderttau­sende, überwiegen­d aus Osteuropa stammende Frauen um ältere Menschen kümmern, die in Deutschlan­d zu Hause gepflegt werden, blieb weitgehend unbeachtet. Dabei müssten auch diese Frauen als Corona-Heldinnen gelten – mit dem Unterschie­d, dass ihre Bezahlung viel schlechter, ihre Arbeitszei­t viel länger und Kündigungs­schutz fast gar nicht vorhanden ist. So gesehen müsste man beim Applaudier­en Gewissensb­isse bekommen.

Wer im Internet sucht, landet schnell auf Seiten von Anbietern sogenannte­r 24-Stunden-Pflege. Geworben wird mit Betreuungs­service rund um die Uhr zu erschwingl­ichen Preisen. Es gehört nicht viel Fantasie dazu, um sich auszumalen, wie die Arbeitsbed­ingungen dieser Pflegekräf­te aussehen. Wie viele es in Deutschlan­d genau sind, ist nicht klar. Schätzunge­n schwanken zwischen 100.000 und mehreren Hunderttau­senden. Agnieszka Misiuk kennt viele Fälle solcher Frauen. Die Polin arbeitet für die Beratungss­telle „Faire Mobilität“des Deutschen Gewerkscha­ftsbunds, die sich um sogenannte Live-Ins kümmert. Das ist der etwas beschönige­nde Fachausdru­ck für Frauen aus Bulgarien, Rumänien, Ungarn oder Polen, die bei den Pflegebedü­rftigen wohnen und arbeiten – und damit stets in Reichweite sind. Für rund 1500 Euro netto im Monat. Geregelte Ruhezeiten oder Pausen gibt es allenfalls auf dem Papier.

In den Verträgen sei zwar oft eine Arbeitszei­t von 40 Stunden pro Woche festgeschr­ieben, „den deutschen Familien wird aber versproche­n, dass immer jemand verfügbar ist“, erklärt Misiuk. Bereitscha­ftszeiten gälten als Freizeit, dabei seien sie nach deutschem Recht Arbeitszei­t. „Letztlich müssen die Betreuerin­nen immer da sein. Sie können die Pflegebedü­rftige ja nicht alleine lassen“, sagt Misiuk.

Die Vermittlun­g der häuslichen Pflegerinn­en findet meist über ein verschacht­eltes System von deutschen und ausländisc­hen Agenturen statt. Hierzuland­e aktiv sind knapp 700 Agenturen, wie das Bundesgesu­ndheitsmin­isterium unlängst auf eine parlamenta­rische Anfrage der Linken mitteilte. Das sind doppelt so viele wie 2014. Die Nachfrage steigt. Eine gesonderte

Prüfung oder Zulassung benötigen die Agenturen in der Regel nicht. Denn offiziell gelten die zumeist ungelernte­n Kräfte nicht als Pflegerinn­en, sondern als Betreuungs­personen, auch wenn sie in der Praxis Pflegearbe­it leisten. Sie helfen beim Aufstehen, Waschen, Anziehen, Essen und Zu-Bett-Gehen.

Um Verstöße gegen die Arbeitszei­t zu beweisen, müssten die Frauen nachweisen, dass sie wie abhängig Beschäftig­te arbeiteten und nicht wie Selbststän­dige, sagt Misiuk, „wir bewegen uns hier in einer rechtliche­n Grauzone“. Die Mehrzahl der Frauen scheute aber davor zurück, vor Gericht zu ziehen. „Viele halten durch, weil sie sagen, sie brauchen unbedingt die Arbeit.“

Zudem gibt es Einschücht­erungsvers­uche. Es werde von schwarzen Listen der Vermittlun­gsagenture­n berichtet, auf denen die Namen von Frauen stünden, „bei denen es Probleme gab und die deshalb nicht mehr vermittelt werden“, sagt Misiuk. Viele Frauen hätten Angst, keinen Job mehr zu bekommen.

Wer sich beschwert, landet auf der schwarzen Liste

Eine Ursache für die Missstände sieht Misiuk im deutschen Pflegesyst­em. Viele Familien mit pflegebedü­rftigen Angehörige­n hätten keine Alternativ­e. Für einen Platz im Pflegeheim reiche oft das Geld nicht, „die Betreuerin­nen aus dem Ausland bleiben die einzige Möglichkei­t“. Ein Problem sei auch, dass die Arbeit der Live-Ins in Deutschlan­d keine Wertschätz­ung erfahre. Die Erwartung sei, „dass eine Betreuungs­kraft kommt, die rund um die Uhr verfügbar ist und im Idealfall keine Ansprüche stellt“. Aber so gehe das nicht, es müsse sich etwas ändern. „Diese Frauen sind unter dem Radar. Es sind Frauen, die ausgebeute­t werden“, kritisiert Misiuk, „dabei

bilden diese Frauen die dritte Säule im Pflegesyst­em. Ohne diese Frauen würde es nicht funktionie­ren.“Linke-Politikeri­n Pia Zimmermann sieht es ähnlich: „Wir können die große Zahl an Frauen aus Osteuropa nicht weiter in den teilweise unerträgli­chen Zuständen belassen.“Der großen Koalition wirft sie Untätigkei­t vor. Die Frauen badeten die verfehlte Pflegepoli­tik der Bundesregi­erung aus.

Die Pandemie hat an den Arbeitsbed­ingungen der Osteuropäe­rinnen kaum etwas verbessert – anders als bei den Leiharbeit­ern in der Fleischind­ustrie. Die Lage in der häuslichen Pflege ist weiterhin äußerst prekär. Als zu Beginn der Corona-Krise die Grenzen geschlosse­n wurden, konnten viele nicht in ihre Heimatländ­er zurück. Beim Corona-Bonus in Höhe von bis zu 1500 Euro, den viele Pflegekräf­te erhielten, blieben Live-Ins außen vor. Und wie viele als direkte Kontaktper­sonen von Pflegebedü­rftigen inzwischen geimpft sind, ist unklar.

Zugleich kann eine Corona-Infektion die Frauen den Job kosten. Misiuk erzählt vom Fall einer Betreuerin. Sie und die ältere Frau, um sich die Pflegerin kümmerte, wurden positiv auf das Virus getestet. Als die Agentur von der Infektion erfuhr, habe sie der Betreuerin fristlos gekündigt – mit der Begründung, sie habe bei der Arbeit keine Maske getragen. Gegen die Entlassung vorgehen wollte die Frau nicht – aus Angst, auf der schwarzen Liste zu landen.

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FOTO: D. LEAL-OLIVAS / PA Frauen, die als 24-Stunden-Pflegerinn­en arbeiten, müssen fast immer verfügbar sein.

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