Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)
Raketenhagel auf Israel – gibt es Krieg?
Dauerbeschuss aus Gaza, die israelische Armee antwortet mit Luftangriffen. Ein Flächenbrand droht
Jerusalem. Es begann am späten Nachmittag, die Luft war drückend schwül, wie kurz vor einem Gewitter. Und der Donner kam. Er kam aus Gaza. In ganz Jerusalem heulten die Sirenen, die in Israel jedes Kind deuten kann: Raketenalarm. Eltern rissen ihre Babys aus den Kinderwagen, rannten mit ihnen zum nächsten Bunker oder kauerten auf dem Boden.
Im israelischen Parlament, der Knesset, flohen die Abgeordneten zum nächsten Schutzraum. Sieben Raketen waren Richtung Jerusalem abgefeuert worden. Eine konnte vom Abwehrschild Iron Dome abgefangen werden, andere gingen auf unbewohntem Gebiet außerhalb der Stadt nieder. Niemand wurde verletzt. Doch dann gerieten die Städte im Süden unter Dauerbeschuss. Bis Dienstagnachmittag waren es mehr als 400 Raketen. Nicht alle konnten abgewehrt werden. Zwei Israelis starben.
Die israelische Armee beantwortete den Beschuss mit Luftangriffen auf Gaza. Dabei kamen nach palästinensischen Angaben mehr als 20 Menschen, darunter Kinder, ums Leben. Die israelische Armee sprach von 15 toten Extremisten.
Was vor wenigen Wochen als Straßenprotest begonnen hatte, bringt das Land nun an den Rand eines Krieges. Raketenalarm in den Städten nahe dem Gazastreifen, wo die radikalislamische Hamas regiert, das gab es zuletzt fast täglich. Aber in Jerusalem zum letzten Mal sieben Jahren – im Gazakrieg im Sommer 2014.
Warum eskaliert die Lage jetzt? Dafür gibt es mehrere Gründe: Das hat mit dem Fastenmonat Ramadan zu tun, der emotional aufgeladen ist, aber auch mit den bevorstehenden Räumungen von Häusern palästinensischer Familien in Ostjerusalem. 1876 hatten dort zwei jüdische Stiftungen Land gekauft, auf dem sich das Grab von Schimon dem Gerechten befinden soll. Nachdem Jordanien Ostjerusalem 1948 erobert hatte, ließen Jordanien und die Vereinten Nationen an der Stelle im Viertel Scheich Dscharrah Wohnungen für palästinensische Flüchtlinge errichten.
Im Sechstagekrieg eroberte die israelische Armee 1967 dann Ostjerusalem. Nun klagen Siedler auf Rückgabe dieses Grundbesitzes, ein Gerichtstermin vor dem Obersten Gericht wurde jetzt vertagt. Dieser Rechtsstreit ist für viele Palästinenser ein weiteres Beispiel für ihre Verdrängung aus ihrer Stadt.
Dass es nicht bei den Protesten blieb und die Hamas schließlich Raketen abfeuerte, hat aber vor allem innenpolitische Gründe: In zehn
Tagen hätten die Palästinenser ein neues Parlament wählen sollen. Es wären die ersten Wahlen seit 16 Jahren gewesen, aber Palästinenserpräsident Mahmud Abbas sagte sie ab – und schob die Schuld Israel zu, das in Ostjerusalem keine Wahlurnen aufstellen lassen wollte. Darüber waren viele Ostjerusalemer und die Hamas erzürnt: Die Islamisten hatten gehofft, die Fatah von Abbas bei den Wahlen zu schlagen. Die Hamas versuchte, die Proteste für ihre Zwecke zu nutzen und sich so an die Spitze der Palästinenser zu setzen. Auch die israelischen Sicherheitskräfte hatten zur Wut der Palästinenser beigetragen: In Jerusalem wurden Ramadanfeiern eingeschränkt. Die Polizei ging bei Demonstrationen gegen diese Einschränkungen teils gewaltsam vor, was für neue Proteste sorgte. Dass die Polizei dann die Al-Aksa-Moschee stürmte, brachte aus der Sicht vieler Palästinenser das Fass zum Überlaufen.
Droht ein neuer Krieg wie 2014?
Die israelische Armee macht sich auf eine „unbegrenzte Eskalation“gefasst – also auch auf Krieg. Ob es dazu kommt, werden die Ereignisse der nächsten 24 Stunden entscheiden, sagt der Tel Aviver Militärexperte Itai Brun. Es ist eine paradoxe Situation: Denn die Eskalation war „von beiden Seiten nicht gewollt“, meint Brun. Die Ereignisse hätten eine eigene Dynamik entwickelt. Beide Seiten hätten kein Interesse an einem Krieg. Was nicht bedeutet, dass die Menschen nun ruhig schlafen können. 2014 war die Ausgangslage
ähnlich. Auch damals war es eine ungewollte Eskalation. Ab einem gewissen Moment war es aber „sehr schwer zu deeskalieren“. Das könnte auch diesmal der Fall sein, denn die israelische Regierung und die Hamas wollen nicht schwach wirken. Irgendwann gebe es dann kein Zurück mehr – dann ist Krieg.
Was kann die internationale Gemeinschaft tun?
Die Vereinten Nationen sind gespalten. Der Sicherheitsrat befasste sich mit den Krawallen in Jerusalem, er stand laut Insidern kurz vor einer Resolution – dann ging der Raketenhagel los. Auch die EU spricht nicht mit einer Stimme. Der oberste EU-Diplomat für die Palästinensergebiete, Sven Kühn von Burgsdorff, sagte am Dienstag in Jerusalem: „Die Räumungen der Wohnungen palästinensischer Familien verletzen internationales Recht.“Die Außenminister von sechs EU-Staaten, darunter Deutschland, kritisierten schon vor wenigen Tagen die „fortgesetzten Zwangsräumen“in Ostjerusalem, die die Bemühungen zum Aufbau von neuem Vertrauen „untergraben“.