Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)
Vor dem Abgrund
Warum Landolf Scherzer nach 30 Jahren ein Buch neu herausbringt
Erfurt. Dieses Zollamt, sagt eine Frau, tötet unsere Seelen. Landolf Scherzer traf sie in einem russischen Grenzdorf nahe der ukrainischen Stadt Nowgorod Sewerski. Als er dort aus dem Zug stieg, hatten die Ukrainer gerade für ihre Unabhängigkeit gestimmt. Er sprach mit Kolchosvorsitzenden; hospitierte in einer Geschichtsstunde; ließ sich von Stadtführerin Valentina vom legendären Fürst Igor erzählen, der in Nowgorod Sewerski lebte und dessen Geschichte zu den russischen Ur-Mythen gehört; staunte über die Wurst und die Butter in den Regalen, die in russischen Läden kaum noch aufzutreiben waren und fror im ungeheizten Hotelzimmer. Die Begegnungen beschrieb er einst in einem Reportage-Buch. Ein halbes Jahr lang, zwischen Herbst 1991 und Frühjahr 1992 fuhr er dafür durch die Länder der zerfallenden Sowjetunion. Das fiel ihm ein, als am 24. Februar Russland die Ukraine überfiel. Er holte die alten Texte hervor, scannte und korrigierte sie für eine Neuauflage. Eine fieberhafte Arbeit von wenigen Tagen und Nächten, gemeinsam mit Freunden. Weil man sich so ohnmächtig fühlte.
„Am Sarg der Sojus“hat einen Ton, der auch die späteren Bücher Scherzers prägt. Der eines neugierigen Besuchers, der sich scheinbar zufällig durch Land, Leute und Geerzählen schichten treiben lässt, fast als suchten sie ihn und nicht umgekehrt. Traurige, fröhliche, manchmal skurrile, die in ihrer Alltäglichkeit, ihrem Anschein von Beiläufigkeit mehr von einem Land in einer Zeit
als jede politische Analyse.
Das Bild auf dem Umschlag ist neu, der Untertitel auch: Wer über das Heute spricht, sollte auch das Gestern kennen. Deshalb diese Neuauflage. Die Gräben, die das Gift des Nationalismus schuf, die heute ein Abgrund sind, waren damals schon spürbar, sagt Scherzer.
Und, ließe hinzufügen, die Begegnungen jener Zeit, als in Russland nicht nur vermeintliche Gewissheiten den Menschen den Boden unter den Füßen zog, erzählen auch warum eine Mehrheit der Russen Putins Politik unterstützt.
Auch das? Auch das, stimmt Scherzer zu. Aber nein, er ergreift keine Partei, für keine Seite. Er ist, sagt er, gegen diesen Krieg, das sei seine Parteinahme. Dem Buch ist eine Widmung vorangestellt: den Ukrainern und Russen, die sich gegen jeden hasserfüllten Nationalismus und für ein friedliches Leben ihrer Völker einsetzen. Das klingt derzeit nach dem einsamen Klang eines Rufers in der Wüste. Aber das sind Schriftsteller ohnehin oft.