Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)
Ungewöhnlich grün
Wie sich die kleinste Regierungspartei nach ihrer Kabinettsreform neu zu sortieren versucht
Die Delegierten dürfen umweltund landschaftsfreundlich anreisen. Das hübsche südwestthüringische Walldorf, in dem die Thüringer Grünen am Samstag ihren Parteitag veranstalten, liegt direkt am Werra-Radweg. Dennoch könnte der Ausflug nach Südwestthüringen ungemütlich werden. Ein Tagesordnungspunkt ist die Neuwahl eines Vorsitzenden, der zusammen mit Co-Chefin Ann-Sophie Bohm den Landesverband ins Superwahljahr 2024 führen soll. Denn: Amtsinhaber Bernhard Stengele ist seit kurzem Umweltminister. Und weil bei den Grünen Partei- und Regierungsposten ebenso wenig zusammengehören wie Amt und Parlamentsmandat, gibt er den Vorsitz ab.
Der bislang einzige Nachfolgekandidat wirkt ziemlich ungewöhnlich. Matthias Kaiser ist Hauptmann der Bundeswehr. Und er kandidierte bereits 2012 als Oberbürgermeisterkandidat – für die CDU. Bei den Grünen sei er seit 2018, sagt er. Voriges Jahr übernahm er den Vorsitz im Gothaer Kreisverband.
Aber was ist schon noch gewöhnlich bei den Thüringer Grünen. Immerhin haben sie gerade eine maximal umkämpfte Spontan-Kabinettsreform durchgeführt.
Fast der gesamte Landesverband wurde kalt erwischt
Der Ablauf in Kürze: Einen Tag vor Heiligabend verkündete die zweifache Spitzenkandidatin und achtjährige Umweltministerin Anja Siegesmund ihren Rücktritt für Ende Januar – aus, wie sie sagte, „persönlichen Gründen“. Sie wolle eine Auszeit nehmen und neu anfangen. Konkrete Berufspläne aber, das versicherte sie parteiintern wie presseöffentlich, gebe es keine.
Nur Stengele, Bohm und einige enge Mitstreiterinnen wie die Bundestagsabgeordnete Katrin GöringEckardt waren vorher eingeweiht. Der Rest der Partei, die komplette Landtagsfraktion eingeschlossen, wurde kalt erwischt.
Eine Nachfolgelösung existierte nicht einmal im Ansatz. Nach Wochen voller Dauertelefonate, Krisentreffen und Absagen entschieden sich Parteispitze und Fraktion für einen brachialen Schritt: Mit Dirk Adams wurde Siegesmunds früherer Co-Spitzenkandidat als Migrations- und Justizminister gegen seinen erklärten Willen entlassen, wobei keine konkreten Gründe genannt wurden. Es gehe um einen Neuanfang, hieß es nur.
Stengele, bis 2020 als Schauspieler und Regisseur tätig, machte sich selbst zum Umweltminister. Das Migrations- und Justizressort übernahm die Polizeibeamtin Doreen Denstädt, die als Sachbearbeiterin in der Vertrauensstelle des Innenministeriums gearbeitet hatte. Neue Staatssekretärin wurde ihre bisherige Vorgesetzte Meike Herz. Auch diese Personalien dürfen als mindestens ungewöhnlich gelten.
Kurz danach wurde bekannt, dass Siegesmund die Position als geschäftsführende Präsidentin des Bundesverbands der Deutschen Entsorgungs-, Wasser und Kreislaufwirtschaft (BDE) anstreben soll. Sie wäre damit die oberste Lobbyistin einer großen Arbeitgeberorganisation, und dies mit einer Entlohnung deutlich über ihrem Ministeringehalt.
Siegesmund räumte die Pläne nur unter Druck ein. Erst sprach sie auf Anfrage dieser Zeitung von Angeboten, die sie prüfe; dann sagte sie, dass ein Angebot vom BDE stamme.
Daraufhin bestätigt auch der Verband die Gespräche: „In Ergänzung der auf den BDE bezogenen Äußerungen von Frau Siegesmund gegenüber Ihrer Zeitung teile ich Ihnen mit, dass sich eine Findungskommission des Verbandes aktuell im Auswahlverfahren befindet“, sagte ein Sprecher auf Anfrage.
Bis April will die BDE-Spitze die Personalauswahl verkünden, die Wahl findet am 23. Mai statt. Vorher muss aber geklärt sein, ob Siegesmund überhaupt kandidieren darf. Denn das Thüringer Ministergesetz – das auf Druck der Grünen verschärft wurde – verbietet die Anstellung eines früheren Kabinettsmitglieds binnen 24 Monaten, falls die neue Tätigkeit „in Angelegenheiten oder Bereichen ausgeübt werden soll“, mit der es zuvor regierungsamtlich befasst war.
Als Umweltministerin hatte Siegesmund durchaus mit Themen des Verbandes zu tun, ob es nun um Mülltrennung, den Reparaturbonus oder Abfallvermeidung ging. Nicht nur die grüne Fraktionschefin Astrid Rothe-Beinlich hält deshalb eine Beschäftigung der Ex-Ministerin beim BDE für „schwierig“.
Siegesmund selbst reichte noch während ihrer Amtszeit – laut Auskunft der Staatskanzlei war es der 12. Januar – einen Antrag auf eine neue Tätigkeit innerhalb der Karenzzeit ein. Was drin steht, teilt die Landesregierung unter Verweis auf die Persönlichkeitsrechte der ExPolitikerin nicht mit. Nur soviel: Das „beratende Gremium“, das laut Gesetz eine Empfehlung abgibt, sei am 8. Februar über Siegesmunds Anliegen informiert worden.
Die grüne Landespartei könnte beträchtlichen Schaden nehmen
Zu der Kommission gehören die einstigen CDU-Politiker Frank-Michael Pietzsch und Gustav Bergemann, der Geschäftsführer des hiesigen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Stefan Werner, der ehemalige BUND-Landeschef Ron Hoffman sowie Norman Loeckel von der Antikorruptionsorganisation Transparency International. Die endgültige Entscheidung trifft zwar das Kabinett, doch es dürfte politisch heikel sein, sich über die Empfehlung hinwegzusetzen.
Noch berät das Gremium. Nach Informationen dieser Zeitung hat es den BDE um Stellungnahme gebeten, was der Verband auf Nachfrage nicht kommentieren will.
Wie die Sache ausgeht, ist mithin ungewiss. So oder so könnte das Außenbild der Grünen, die laut Umfragen um den Wiedereinzug in den Landtag fürchten müssen, beträchtlichen Schaden nehmen.
In dieses Bild passt auch, dass es eine Woche vor dem Landesparteitag noch keinen offiziellen Kandidaten für Stengeles Nachfolge gab. Ex-CDU-Mann Kaiser reichte erst am Wochenende seine Bewerbung ein. Somit kann er kaum vor der Wahl noch durch die Kreisverbände tingeln, um zu erklären, wie er die Grünen vor dem Rauswurf aus dem Landtag retten will.
Kurzum, der Parteitag in Walldorf an der Werra dürfte interessant werden, zumal Siegesmund und Adams ihre Teilnahme angekündigt haben. Der Ex-Migrationsminister, der seit seiner Entlassung sämtliche Presseanfragen ablehnte, will auch zu den Delegierten reden.
Eine offizielle Verabschiedung der beiden Politiker, die den Landesverband für mehr als ein Jahrzehnt prägten, soll es nicht geben. Aber auch dies fügt sich ins Bild der grünen Ungewöhnlichkeit.