Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)
Die gefährlichen Lücken der Bundeswehr
Ein Jahr nach der „Zeitenwende“-Rede des Kanzlers sehen Experten große Probleme bei der Modernisierung der Truppe
Es gibt einen Moment, der zeigt die Notlage der Bundeswehr wie unter einem Brennglas. Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) steht Anfang Februar vor Soldatinnen und Soldaten in Augustdorf. Hier trainiert das Panzerbataillon 203 an ihren „Leopard 2“. Doch nun müssen die Panzer in die Ukraine. Bald transportiert die Bundeswehr die Leopard ab. Zurück in der Kaserne in NordrheinWestfalen bleibt ein Panzerbataillon ohne Panzer. Was wird aus den Übungen der Soldaten hier? „Wir müssen kreativ sein“, sagt einer aus der Truppe.
Am heutigen Montag ist es ein Jahr her, da hielt Bundeskanzler Olaf Scholz seine Rede über die „Zeitenwende“im Bundestag. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine war da gerade ein paar Tage alt. Einerseits hat die Regierung 100 Milliarden Euro an „Sondervermögen“für das Militär freigegeben, neue Verpflichtungen an die Nato abgegeben – andererseits bleiben die Mängel: schleppende Waffenproduktionen, fehlendes Personal, Engpässe beim Geld. Die Baustellen der Bundeswehr bleiben auch im zweiten Kriegsjahr bestehen. Der Chef des Bundeswehrverbands, André Wüstner, warnt nun: „Ob bei Material, Personal oder Infrastruktur, es braucht in dieser Legislaturperiode eine echte, in der Truppe spürbare Wende, sonst war’s das mit der Zeitenwende.“
Waffen: Hilfe für die Ukraine reißt Lücken im Materialbestand
32 Flakpanzer, Flugabwehrraketen vom Typ Iris-T, 14 Panzerhaubitzen, Munition, Lastwagen, Bergepanzer – dies ist ein Auszug aus der Liste an Waffen und Material, die die Bundesregierung dem ukrainischen Militär bisher geliefert hat. Das aber reißt Lücken in den Materialbestand der Bundeswehr. Die aktuelle Bedarfsliste der Bundeswehr ist riesig: Sturmgewehre, moderne Schützenpanzer vom Typ Puma, die den veralteten „Marder“ablösen sollen, Kampfdrohnen, neue Schiffe für die Marine, aber auch persönliche Ausstattung für die Soldaten fehlt – Schutzwesten, Rucksäcke, Helme.
Ende 2022, ein knappes Jahr nach Kriegsbeginn, ging durch die Fachausschüsse des Bundestags ein Großauftrag, rund zehn Milliarden Euro schwer: Tarnkappenjets vom Typ F-35. Es ist das erste Geld, das aus dem Sondervermögen abgerufen wird. Bisher allerdings blieb es
der einzige Großauftrag. „Die Bestellung von Kriegsgerät und Munition läuft immer noch schleppend. Das ist fatal angesichts der gewachsenen Sicherheitsbedrohung durch den Ukraine-Krieg“, sagt CDU-Verteidigungsexperte Henning Otte unserer Redaktion.
Rüstungsfirmen wittern gute Geschäfte angesichts der Aufrüstungspläne der Regierung. Doch die Firmen heben im Gespräch mit unserer Redaktion hervor, dass sie Rahmenverträge benötigen, die langfristig gelten müssten. Ohne Garantien gehe es nicht. Das heißt: Rheinmetall und Co. warten auf Verträge über die Produktion etwa von Panzern. Doch die kommen nicht. „Das Beschaffungswesen der Bundeswehr ist weiter im Tiefschlaf. Es wird gebremst und blockiert“, sagt ein Industrievertreter. Das Verteidigungsministerium weist darauf hin, dass rund 30 Milliarden Euro bereits verplant seien. „Wir sind an die Regularien und Gesetze gebunden und dürfen erst zahlen, wenn die Leistung erbracht ist.“Das Problem: Das Beschaffungswesen der Bundeswehr ist träge, gebunden an komplexe Verfahren und Regularien. Sind Lücken ausgemacht, müssen Großaufträge durch das Parlament genehmigt werden, danach erst beginnen aufwendige Ausschreibungen. Die Produktion von High-Tech-Kriegsgerät ist ebenfalls enorm zeitaufwendig.
Finanzen: Klagen über zu wenig Geld, zu viel Bürokratie
Die von Scholz versprochenen 100 Milliarden Euro „Sondervermögen“reichen nicht. Das jedenfalls bekräftigt nun Heeresinspekteur Alfons Mais. „Ich sehe einen sehr großen Druck, die Nachbeschaffungen jetzt mit größtem Tempo voranzubringen. Wir haben die Leopard-Panzer noch nicht abgegeben und überlegen richtigerweise schon, wie wir sie schnellstmöglich ersetzen können“, sagt Mais. „Bei der Panzerhaubitze und bei den Raketenwerfern hat es sehr lange gedauert, aber auch dort ist jetzt ein extrem hoher Druck drauf.“Der
Generalleutnant hebt hervor, dass für die genannten Großprojekte bei der Beschaffung mehr Geld notwendig ist. „Das Sondervermögen alleine wird dafür jedoch nicht reichen.“Laut Bundeswehrverband kostet allein die Beschaffung von ausreichend Munition 20 bis 30 Milliarden Euro. Die Wehrbeauftragte des Bundestags, Eva Högl, hatte unlängst eine Verdreifachung des Etats gefordert: auf 300 Milliarden Euro für die Truppe. Auch Verteidigungsminister Pistorius hält 100 Milliarden für zu wenig.
Der CDU-Politiker Otte sieht Finanzlücken nicht nur im „Sondervermögen“, sondern auch im regulären Haushaltsplan. „Der Verteidigungsetat muss deutlich wachsen, von bisher 50 Milliarden auf mindestens 70 Milliarden Euro, damit das Zwei-Prozent-Ziel Deutschlands
in der Nato überhaupt er- reicht werden kann“, sagte Otte.
Soldaten: Löst eine Aufstockung der Reserve die Personalnot?
Die Bundeswehr hat ein Nach- wuchsproblem – vor allem seit der Aussetzung der Wehrpflicht 2011 kommen zu wenige neue Rekrutin- nen und Rekruten. 2021 waren laut Bericht der Wehrbeauftragten al- lein bei Unteroffizieren und Offizie- ren 20.000 Stellen nicht besetzt. Je- der sechste Posten ist in der Truppe unbesetzt. Aktuell dienen gut 180.000 Soldatinnen und Soldaten. Zum Vergleich: 1990 waren es noch gut 500.000. Die Wehrbeauftragte Högl zeigt sich offen für die Wieder- einführung der Wehrpflicht. Die FDP lehnt das ab – und schlägt statt- dessen eine Stärkung der „Reserve“vor. So würden Praktiker und Profis in die Bundeswehr eingebunden, heißt es in einem Papier der Partei. Finanzminister und FDP-Chef Christian Lindner sagte, der Aufbau der Reserve sei „smarter und volkswirtschaftlich günstiger als die Wehrpflicht“. Auch im Verteidigungsministerium ist man skeptisch, dass eine Wehrpflicht leistbar sei – zu viel Personal und Ressourcen würde Rekrutierung, Unter- bringung, Versorgung binden.