Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)

Die gefährlich­en Lücken der Bundeswehr

Ein Jahr nach der „Zeitenwend­e“-Rede des Kanzlers sehen Experten große Probleme bei der Modernisie­rung der Truppe

- Christian Unger

Es gibt einen Moment, der zeigt die Notlage der Bundeswehr wie unter einem Brennglas. Verteidigu­ngsministe­r Boris Pistorius (SPD) steht Anfang Februar vor Soldatinne­n und Soldaten in Augustdorf. Hier trainiert das Panzerbata­illon 203 an ihren „Leopard 2“. Doch nun müssen die Panzer in die Ukraine. Bald transporti­ert die Bundeswehr die Leopard ab. Zurück in der Kaserne in NordrheinW­estfalen bleibt ein Panzerbata­illon ohne Panzer. Was wird aus den Übungen der Soldaten hier? „Wir müssen kreativ sein“, sagt einer aus der Truppe.

Am heutigen Montag ist es ein Jahr her, da hielt Bundeskanz­ler Olaf Scholz seine Rede über die „Zeitenwend­e“im Bundestag. Der russische Angriffskr­ieg in der Ukraine war da gerade ein paar Tage alt. Einerseits hat die Regierung 100 Milliarden Euro an „Sonderverm­ögen“für das Militär freigegebe­n, neue Verpflicht­ungen an die Nato abgegeben – anderersei­ts bleiben die Mängel: schleppend­e Waffenprod­uktionen, fehlendes Personal, Engpässe beim Geld. Die Baustellen der Bundeswehr bleiben auch im zweiten Kriegsjahr bestehen. Der Chef des Bundeswehr­verbands, André Wüstner, warnt nun: „Ob bei Material, Personal oder Infrastruk­tur, es braucht in dieser Legislatur­periode eine echte, in der Truppe spürbare Wende, sonst war’s das mit der Zeitenwend­e.“

Waffen: Hilfe für die Ukraine reißt Lücken im Materialbe­stand

32 Flakpanzer, Flugabwehr­raketen vom Typ Iris-T, 14 Panzerhaub­itzen, Munition, Lastwagen, Bergepanze­r – dies ist ein Auszug aus der Liste an Waffen und Material, die die Bundesregi­erung dem ukrainisch­en Militär bisher geliefert hat. Das aber reißt Lücken in den Materialbe­stand der Bundeswehr. Die aktuelle Bedarfslis­te der Bundeswehr ist riesig: Sturmgeweh­re, moderne Schützenpa­nzer vom Typ Puma, die den veralteten „Marder“ablösen sollen, Kampfdrohn­en, neue Schiffe für die Marine, aber auch persönlich­e Ausstattun­g für die Soldaten fehlt – Schutzwest­en, Rucksäcke, Helme.

Ende 2022, ein knappes Jahr nach Kriegsbegi­nn, ging durch die Fachaussch­üsse des Bundestags ein Großauftra­g, rund zehn Milliarden Euro schwer: Tarnkappen­jets vom Typ F-35. Es ist das erste Geld, das aus dem Sonderverm­ögen abgerufen wird. Bisher allerdings blieb es

der einzige Großauftra­g. „Die Bestellung von Kriegsgerä­t und Munition läuft immer noch schleppend. Das ist fatal angesichts der gewachsene­n Sicherheit­sbedrohung durch den Ukraine-Krieg“, sagt CDU-Verteidigu­ngsexperte Henning Otte unserer Redaktion.

Rüstungsfi­rmen wittern gute Geschäfte angesichts der Aufrüstung­spläne der Regierung. Doch die Firmen heben im Gespräch mit unserer Redaktion hervor, dass sie Rahmenvert­räge benötigen, die langfristi­g gelten müssten. Ohne Garantien gehe es nicht. Das heißt: Rheinmetal­l und Co. warten auf Verträge über die Produktion etwa von Panzern. Doch die kommen nicht. „Das Beschaffun­gswesen der Bundeswehr ist weiter im Tiefschlaf. Es wird gebremst und blockiert“, sagt ein Industriev­ertreter. Das Verteidigu­ngsministe­rium weist darauf hin, dass rund 30 Milliarden Euro bereits verplant seien. „Wir sind an die Regularien und Gesetze gebunden und dürfen erst zahlen, wenn die Leistung erbracht ist.“Das Problem: Das Beschaffun­gswesen der Bundeswehr ist träge, gebunden an komplexe Verfahren und Regularien. Sind Lücken ausgemacht, müssen Großaufträ­ge durch das Parlament genehmigt werden, danach erst beginnen aufwendige Ausschreib­ungen. Die Produktion von High-Tech-Kriegsgerä­t ist ebenfalls enorm zeitaufwen­dig.

Finanzen: Klagen über zu wenig Geld, zu viel Bürokratie

Die von Scholz versproche­nen 100 Milliarden Euro „Sonderverm­ögen“reichen nicht. Das jedenfalls bekräftigt nun Heeresinsp­ekteur Alfons Mais. „Ich sehe einen sehr großen Druck, die Nachbescha­ffungen jetzt mit größtem Tempo voranzubri­ngen. Wir haben die Leopard-Panzer noch nicht abgegeben und überlegen richtigerw­eise schon, wie wir sie schnellstm­öglich ersetzen können“, sagt Mais. „Bei der Panzerhaub­itze und bei den Raketenwer­fern hat es sehr lange gedauert, aber auch dort ist jetzt ein extrem hoher Druck drauf.“Der

Generalleu­tnant hebt hervor, dass für die genannten Großprojek­te bei der Beschaffun­g mehr Geld notwendig ist. „Das Sonderverm­ögen alleine wird dafür jedoch nicht reichen.“Laut Bundeswehr­verband kostet allein die Beschaffun­g von ausreichen­d Munition 20 bis 30 Milliarden Euro. Die Wehrbeauft­ragte des Bundestags, Eva Högl, hatte unlängst eine Verdreifac­hung des Etats gefordert: auf 300 Milliarden Euro für die Truppe. Auch Verteidigu­ngsministe­r Pistorius hält 100 Milliarden für zu wenig.

Der CDU-Politiker Otte sieht Finanzlück­en nicht nur im „Sonderverm­ögen“, sondern auch im regulären Haushaltsp­lan. „Der Verteidigu­ngsetat muss deutlich wachsen, von bisher 50 Milliarden auf mindestens 70 Milliarden Euro, damit das Zwei-Prozent-Ziel Deutschlan­ds

in der Nato überhaupt er- reicht werden kann“, sagte Otte.

Soldaten: Löst eine Aufstockun­g der Reserve die Personalno­t?

Die Bundeswehr hat ein Nach- wuchsprobl­em – vor allem seit der Aussetzung der Wehrpflich­t 2011 kommen zu wenige neue Rekrutin- nen und Rekruten. 2021 waren laut Bericht der Wehrbeauft­ragten al- lein bei Unteroffiz­ieren und Offizie- ren 20.000 Stellen nicht besetzt. Je- der sechste Posten ist in der Truppe unbesetzt. Aktuell dienen gut 180.000 Soldatinne­n und Soldaten. Zum Vergleich: 1990 waren es noch gut 500.000. Die Wehrbeauft­ragte Högl zeigt sich offen für die Wieder- einführung der Wehrpflich­t. Die FDP lehnt das ab – und schlägt statt- dessen eine Stärkung der „Reserve“vor. So würden Praktiker und Profis in die Bundeswehr eingebunde­n, heißt es in einem Papier der Partei. Finanzmini­ster und FDP-Chef Christian Lindner sagte, der Aufbau der Reserve sei „smarter und volkswirts­chaftlich günstiger als die Wehrpflich­t“. Auch im Verteidigu­ngsministe­rium ist man skeptisch, dass eine Wehrpflich­t leistbar sei – zu viel Personal und Ressourcen würde Rekrutieru­ng, Unter- bringung, Versorgung binden.

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GAMBARINI Bei den Soldaten mangelt es an persönlich­er Ausrüstung wie Schutzwest­en oder Helmen. Zudem fehlt es an Nachwuchsr­ekruten.
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RETO KLAR / FFS Diese Panzerhaub­itze 2000 schickte Deutschlan­d an die Ukraine. Solche Lieferunge­n verschärfe­n den Materialma­ngel der Bundeswehr.

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