Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)
Faust – ein Denkmalsturz . . .
. . . aber keine Zertrümmerung: Das Junge Stellwerk-Theater in Weimar räumt furios mit Goethes Tragödie auf und ermöglicht so eine neue Annäherung
Höchst selten bekommen wir wirklich einen Pudel zu sehen, wenn „Faust“gegeben wird. Im Stellwerk, Weimars Jungem Theater, zeigen sie uns jetzt einen, auf der Leinwand. Und des Pudels Kern ist immer noch der Geist, der stets verneint. Nur heißt er nicht Mephisto; den gibt’s gar nicht. Er heißt vielmehr: Goethes Faust – der Klassiker. Er ist hier der Teufel, der aus dem Reclamheft emporsteigt und der nur das eine will: unsere Seele.
Vor anderthalb Jahrzehnten gab’s hier zuletzt einen frischen, vergleichsweise jedoch konventionellen (Ur-)Faust zu sehen. Jetzt spielen sie „Faust – eine Tragödie“sowie, laut Untertitel, eine Inszenierung für Schulklassen. Beides ist nicht gelogen, es ist nur eben anders gemeint als man meinen mag. Wir sehen keine Tragödie um Heinrich und Gretchen, wir sehen die – allerdings oft sehr lustige – Tragödie dieses Stückes, das unter seinen vielen Zuschreibungen fast verschwindet.
„Ich bin“, so ruft es uns hier zu, „das Stöhnen der Oberstufe, deine gymnasiale Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die Lebensversicherung deines Deutschlehrers, . . .“Außerdem: literarische Ikone, schauspielerischer Olymp, Bildungsstandard und Hochkultur. Der Schulausflug, die Klassenfahrt.
Was es heißt, „Faust“vom (Weimarer) Sockel zu holen, weiß erst, wer diese Aufführungen sieht: von und mit Hannah Röbisch, Jonah Martensen, Emma Rauch, Victoria Kerl, Melanie Hultsch – fünf Laien so um die Zwanzig – inszeniert von Till Wiebel, wofür, nach langer Vorbereitung, drei Wochen reichen mussten. Sie reichten, was die Spielund Sprechweisen angeht, nicht ganz. Da ist noch Luft nach oben.
Und doch ist’s ein ganz und gar furioser Siebzig-Minuten-Abend, der sehr heiter und doch auch mit heiligem Ernst ein Denkmal stürzt, der es dekonstruiert, aber nicht zertrümmert, ihm auf die Füße tritt, aber nicht auf ihm herumtrampelt.
Letztlich sehen wir in dieser Inszenierung, die kaum Figuren kennt, aber einige Parodien, die eine Gruppe formt und auch einen Chor, eine gegenwärtige Hassliebesgeschichte. „Faust“, das Stück, der Text, die Szenenfolge ist ihnen Ausgangsund auch Haltepunkt. Sie entfernen sich oft sehr weit davon: Es ist die einzige Möglichkeit, sich mal wieder vorsichtig anzunähern.
Den Weltschmerz, die Frage nach dem Sinn des Lebens, Liebens und Lernens, dieses Sehen, dass wir nichts wissen können, überschreiben und überlagern sie zeitgenössisch. Auch optisch: auf einer lässig gehängten Leinwand, die ein Vorhang ist, vor der Hauptbühne als
Greenscreen mit Livekamera. So stehen und spielen sie plötzlich im Himmel und auf Weimars Gassen, geben sie Faust, Mephisto und Goethe ihre jugendlichen Gesichter. Das ist gleichsam ihre Hexenküche.
Und ihr Kerker gehört Faust. Alter Mann verführt Minderjährige? „Der Typ gehört in den Knast, nicht ins Zentralabitur!“Und Nein heißt übrigens Nein! Ein wütender Klagechor im Finale. Eine Abrechnung. Tabula rasa. Und plötzlich „keine Angst mehr, mich selbst in ihm zu suchen“, In Faust, in Goethe. So geben sie dieser verfahrenen Beziehungskiste eine zweite Chance.