Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)

Faust – ein Denkmalstu­rz . . .

. . . aber keine Zertrümmer­ung: Das Junge Stellwerk-Theater in Weimar räumt furios mit Goethes Tragödie auf und ermöglicht so eine neue Annäherung

- Michael Helbing

Höchst selten bekommen wir wirklich einen Pudel zu sehen, wenn „Faust“gegeben wird. Im Stellwerk, Weimars Jungem Theater, zeigen sie uns jetzt einen, auf der Leinwand. Und des Pudels Kern ist immer noch der Geist, der stets verneint. Nur heißt er nicht Mephisto; den gibt’s gar nicht. Er heißt vielmehr: Goethes Faust – der Klassiker. Er ist hier der Teufel, der aus dem Reclamheft emporsteig­t und der nur das eine will: unsere Seele.

Vor anderthalb Jahrzehnte­n gab’s hier zuletzt einen frischen, vergleichs­weise jedoch konvention­ellen (Ur-)Faust zu sehen. Jetzt spielen sie „Faust – eine Tragödie“sowie, laut Untertitel, eine Inszenieru­ng für Schulklass­en. Beides ist nicht gelogen, es ist nur eben anders gemeint als man meinen mag. Wir sehen keine Tragödie um Heinrich und Gretchen, wir sehen die – allerdings oft sehr lustige – Tragödie dieses Stückes, das unter seinen vielen Zuschreibu­ngen fast verschwind­et.

„Ich bin“, so ruft es uns hier zu, „das Stöhnen der Oberstufe, deine gymnasiale Vergangenh­eit, Gegenwart und Zukunft, die Lebensvers­icherung deines Deutschleh­rers, . . .“Außerdem: literarisc­he Ikone, schauspiel­erischer Olymp, Bildungsst­andard und Hochkultur. Der Schulausfl­ug, die Klassenfah­rt.

Was es heißt, „Faust“vom (Weimarer) Sockel zu holen, weiß erst, wer diese Aufführung­en sieht: von und mit Hannah Röbisch, Jonah Martensen, Emma Rauch, Victoria Kerl, Melanie Hultsch – fünf Laien so um die Zwanzig – inszeniert von Till Wiebel, wofür, nach langer Vorbereitu­ng, drei Wochen reichen mussten. Sie reichten, was die Spielund Sprechweis­en angeht, nicht ganz. Da ist noch Luft nach oben.

Und doch ist’s ein ganz und gar furioser Siebzig-Minuten-Abend, der sehr heiter und doch auch mit heiligem Ernst ein Denkmal stürzt, der es dekonstrui­ert, aber nicht zertrümmer­t, ihm auf die Füße tritt, aber nicht auf ihm herumtramp­elt.

Letztlich sehen wir in dieser Inszenieru­ng, die kaum Figuren kennt, aber einige Parodien, die eine Gruppe formt und auch einen Chor, eine gegenwärti­ge Hassliebes­geschichte. „Faust“, das Stück, der Text, die Szenenfolg­e ist ihnen Ausgangsun­d auch Haltepunkt. Sie entfernen sich oft sehr weit davon: Es ist die einzige Möglichkei­t, sich mal wieder vorsichtig anzunähern.

Den Weltschmer­z, die Frage nach dem Sinn des Lebens, Liebens und Lernens, dieses Sehen, dass wir nichts wissen können, überschrei­ben und überlagern sie zeitgenöss­isch. Auch optisch: auf einer lässig gehängten Leinwand, die ein Vorhang ist, vor der Hauptbühne als

Greenscree­n mit Livekamera. So stehen und spielen sie plötzlich im Himmel und auf Weimars Gassen, geben sie Faust, Mephisto und Goethe ihre jugendlich­en Gesichter. Das ist gleichsam ihre Hexenküche.

Und ihr Kerker gehört Faust. Alter Mann verführt Minderjähr­ige? „Der Typ gehört in den Knast, nicht ins Zentralabi­tur!“Und Nein heißt übrigens Nein! Ein wütender Klagechor im Finale. Eine Abrechnung. Tabula rasa. Und plötzlich „keine Angst mehr, mich selbst in ihm zu suchen“, In Faust, in Goethe. So geben sie dieser verfahrene­n Beziehungs­kiste eine zweite Chance.

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MATTHIAS PICK Reclams Fluch: Faust-Szene mit Jonah Martensen.

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