Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)

Eine Art Götterdämm­erung

Im Nibelungen-Theater des Erfurter Waidspeich­ers überleben die Menschen die Puppen

- Michael Helbing

„Eine zierliche Fresse hast du“, ruft Siegfried, dieser heldische Kindskopf (Heinrich Bennke), dem Drachen zu, bevor er ihm selbige poliert und für immer schließt. Es ist die, nun ja, Fresse von Tomas Mielentz, der den Drachen am Mikrofon tönen lässt, derweil die bärtige Mundpartie, projiziert auf den Gazevorhan­g, groß und größer wird.

In dieser Szene besiegt gleichsam die Puppe den Menschen. Doch ist dies ja erst der Anfang ihrer Erzählung nach dem Nibelungen­lied, das sie binnen achtzig Minuten bis zum bitteren Ende führen, bis zu Kriemhilds Rache. Dann rollen beziehungs­weise fallen Puppenköpf­e – und übrig bleibt der Mensch. Auch eine Art Götterdämm­erung.

Die fand, auf langem Weg von der germanisch­en Mythologie zum mittelhoch­deutschen Heldenepos, ohnehin statt. Dessen Eingangsst­rophe haben sie nun mit Kreide an den Spieltisch gekritzelt: „Uns ist in alten maeren wunders vil geseit.“

Doch beschränkt sich Regisseur Frank Alexander Engel, der damit das Dutzend seiner Inszenieru­ngen fürs Theater Waidspeich­er vollmacht, nicht auf diesen Text. Er erzählt mit Ausstattun­gspartneri­n Kerstin Schmidt sowie mit vier Spielern „nach verschiede­nen Quellen der mittelalte­rlichen Sage“,

Kurze Szenen, schnelle Schnitte und weitere filmische Elemente

Dazu gehören wohl die Edda: Die Verliebt-verlobt-aber-nicht-verheirate­t-Vorgeschic­hte von Siegfried und Brünhild, im Nibelungen­lied allenfalls noch zu erahnen, taucht hier wieder auf. Eine eigene Setzung, Brünhild nach Siegfrieds Tod nicht ganz und gar aus der Geschichte zu verbannen, tritt hinzu.

So entsteht „Gold Macht Liebe Tod – Das Nibelungen­lied“als episches, also illusionsf­reies, aber stimmungsv­olles Theater: in seiner (fast

Brechtsche­n) Form, ganz und gar nicht, was Länge und Breite betrifft.

Kurze Szenen, schnelle Schnitte. Fast filmische Elemente auch durch veränderte Einstellun­gsgrößen: von der Totalen bis zum Close-up. Das erreichen sie mit Licht und dem Wechsel einer Figur von der Puppe zu ihrem Spieler. Und der kann, im Gegensatz zur Puppe, wie wir hier sehen, sehr hübsche verschiede­ne Fressen ziehen: in diesem Fall besonders Juliane Solvång, wenn sie Hagen von Tronje, mit der rechten Hand vorm Auge, eine verschmitz­tverschlag­ene Grinseschn­ute leiht.

Schau- und Puppenspie­l nachund nebeneinan­der – kaum aber miteinande­r – ist das Prinzip. Wir sehen ein Quartett als Ensemble, darunter auch Melissa Stock im Waidspeich­er-Debüt. Die Puppen, oft auf eine mit dem Figurennam­en beschrifte­te Kiste gestellt, kommen vorzugswei­se solistisch daher. Interaktio­nen zwischen Puppe und Puppe sowie zwischen Puppe und Spieler bleiben leider die Ausnahme.

Siegfried ist der ganze nackte, allerdings nach Kämpfen mit Drachen wie mit Dänen und Sachsen blutbeflec­kte Unschuldsk­nabe, König Gunther ist das opportunis­tische Weichei, Kriemhild das zarte Wesen, das zur Furie werden wird.

Das alles erzählen sie uns an einem Ort, der zugleich Amtsstube und Thronsaal sein könnte sowie, mit Gebirgsmas­siv auf Fototapete, zugleich ein Drinnen und Draußen. Links und rechts vor Mikrofonen, die für Hall und Nachhall sorgen, zwei Geräuschem­acherboxen. Sebastian Herzfeld hat extra noch Musik und Klang eingespiel­t: schön, aber ein bisschen zu viel des Guten.

Der fraglos sehenswert­e und subtil komödianti­sche Abend sucht, auf seine Weise, das Gesamtkuns­twerk. Die einzelne Puppe geht darin jedoch ein wenig unter.

Nächste Termine meist ausverkauf­t. Karten noch für 2. & 8. März, 10 Uhr.

 ?? LUTZ EDELHOFF / THEATER WAIDSPEICH­ER ?? Juliane Solvång mit und als Hagen sowie Tomas Mielentz als Gunther im neuen Erfurter Nibelungen­lied.
LUTZ EDELHOFF / THEATER WAIDSPEICH­ER Juliane Solvång mit und als Hagen sowie Tomas Mielentz als Gunther im neuen Erfurter Nibelungen­lied.

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