Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)
Kriegspremier Netanjahu: Der Tod des Bruders prägte ihn
Israels langjähriger Regierungschef steht vor seiner größten Herausforderung
Berlin.
Uganda 1976: Israelische Geiseln befreit, Jonathan Netanjahu tot
Viele fühlen sich an den Oktober 1973 erinnert, als Ägypten und Syrien von zwei Fronten angriffen und das unvorbereitete Land an den Rand einer Niederlage brachten. Das neue Trauma geht mindestens so tief und trifft auf einen Regierungschef, der seit Beginn seiner politischen Laufbahn vor allem ein großes Thema hatte: den Kampf gegen den Terror.
Schon in seinen ersten Büchern und Reden empfahl Netanjahu Härte und Unnachgiebigkeit gegen Terroristen – wie einst in Uganda, wo „Joni“starb: Der Tod seines älteren Bruders war ein tiefer Einschnitt im Leben des heutigen Ministerpräsidenten. Jonathan Netanjahu kommandierte 1976 in Entebbe in Uganda die militärische Befreiungsaktion einer von deutschen und palästinensischen Terroristen entführten Air-France-Maschine mit mehr als 100 überwiegend israelischen Fluggästen. Jonathan Netanjahu kam dabei ums Leben.
Benjamin Netanjahu begann unter dem Eindruck des Geiseldramas, sich als Vorkämpfer gegen den Terrorismus zu profilieren. Zunächst leitete er das nach seinem Bruder benannte „Jonathan-Institut“
zur Erforschung des internationalen Terrorismus. Dann wurde er UN-Botschafter. Nach dem Mord an Jitzchak Rabin löste er Schimon Peres als Regierungschef ab. Zum ersten Mal von 1996 bis 1999, dann wieder von 2000 bis 2021 sowie von Dezember 2022 bis heute.
Netanjahu kämpfte im Juni 1967 mit einer Sondergenehmigung in der Antiterror-Einheit „Sayeret Matkal“im Sechs-Tage-Krieg, später auch im Yom-Kippur-Krieg 1973 – Erfahrungen, die ihn stark beeinflussten.
Sein Vater Benzion weckte sein Interesse für Geschichte. Von ihm habe er gelernt, wie wichtig es sei, dass das jüdische Volk rechtzeitig auf existenzielle Gefahren reagiere. Und er verehrt Winston Churchill, mit dem er sich schon selbstbewusst verglichen hat: Churchill habe einsam vor den Gefahren gewarnt, die von Hitler-Deutschland ausgingen. „Es ist 1938, und Iran ist Deutschland“, sagte Netanjahu. Teheran hält er vor, mit Atomwaffen einen „weiteren Holocaust für den jüdischen Staat“vorzubereiten. Netanjahu lehnte die Räumung der von Israel 1967 und 1973 besetzten Gebiete (Gazastreifen, Westjordanland, Golanhöhen) ab. Und er verteidigte das harte Vorgehen gegen die erste und zweite Intifada.
Nur widerstrebend und für kurze Zeit führte er Gespräche mit den Palästinensern über eine mögliche gemeinsame Zukunft. Vor knapp einem Jahr bildete er eine umstrittene rechtsreligiöse Koalition. Kritiker meinen, es sei ihm dabei vor allem um sich selbst gegangen. Gegen Netanjahu läuft ein Korruptionsprozess. Seine neue Regierung stieß bei Freunden im Ausland auf wenig Gegenliebe. Erst nach fast zehn Monaten empfing ihn US-Präsident Joe Biden in New York – und nicht im Weißen Haus. Jetzt aber steht er fest an Netanjahus Seite.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Streit um die heftig umstrittene Justizreform und sein neues Großprojekt – Frieden mit Saudi-Arabien – Netanjahu den Blick verstellte, auf
das, was sich in Gaza zusammenbraute. Der Krieg könnte ihm jetzt aber auch eine Chance bieten, sich nicht nur von seinen bisherigen Partnern zu befreien, denn das Land rückt zusammen. Soldaten, die angekündigt hatten, aus Protest ihren Dienst zu verweigern, folgen der Mobilisierung von 300.000 Reservisten. Netanjahus Vorgänger Jair Lapid bot ihm gemeinsam mit Benny Gantz an, eine Notstandsregierung zu bilden.
Netanjahus Image war oft härter als seine Politik
In seinen langen Jahren an der Regierung war er längst nicht so hart, wie er sich gerne gibt. Jahrelang fürchtete man im Westen, dass er im Alleingang den Iran angreifen könnte. Aber davor schreckte er ebenso zurück wie vor einem vernichtenden Schlag gegen die Hamas. Während seiner zweiten Amtszeit war er sogar für den größten Gefangenenaustausch in der Geschichte Israels verantwortlich. Im Gegenzug für den von der Hamas nach Gaza verschleppten israelischen Soldaten Gilad Schalit ließ Netanjahu 2011 mehr als 1000 palästinensische Gefangene frei. Unter ihnen war auch Yahya Sinwar, einer der heutigen Hamas-Führer.