Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)

Neuer Protest gegen ungerechte­s Gesetz

Direktvers­icherungsg­eschädigte gehen in Erfurt gegen staatlich verordnete „Abzocke“auf die Straße

- Sibylle Göbel Samstag, 20. April, 10 Uhr, Bahnhofsvo­rplatz, Erfurt

Man stelle sich einmal Folgendes vor: Jemand schließt eine kapitalbil­dende Lebensvers­icherung ab, zahlt dafür fleißig Jahr für Jahr ein und freut sich nach Ablauf der Vertragsla­ufzeit auf die Auszahlung. Doch genau in dem Moment kommt die Krankenkas­se des Wegs und hält die Hand auf: Tut uns leid, wir stecken in den Miesen. Deshalb fordern wir ab sofort zehn Jahre lang jeden Monat die vollen Kassenbeit­räge auf die angesparte Summe.

Unvorstell­bar? In einem Rechtsstaa­t ausgeschlo­ssen? Von wegen: Genau das ist in Deutschlan­d passiert. Alle Arbeitnehm­er, die über ihren Betrieb eine sogenannte Direktvers­icherung abgeschlos­sen und damit fürs Alter vorgesorgt haben, werden auf diese Weise zur Kasse gebeten. 2003, als die Defizite der gesetzlich­en Krankenver­sicherunge­n gigantisch waren, beschloss der Bundestag mit dem Gesundheit­smodernisi­erungsgese­tz ein solches Vorgehen. Und: Von dieser Festlegung waren auch sämtliche Altverträg­e betroffen. Das heißt, auch diejenigen Arbeitnehm­er, die ihre Verträge zu völlig anderen Bedingunge­n abgeschlos­sen haben, müssen seither zahlen.

Aufgefalle­n ist das allerdings erst, als es zu ersten Auszahlung­en kam. Denn weder die Arbeitgebe­r, über die die Versicheru­ngen abgeschlos­sen wurden, noch die Versicheru­ngen wurden verpflicht­et, den Sparern reinen Wein einzuschen­ken. Das Gros der Versichert­en stellt erst dann, wenn es die Rechnung seiner Krankenkas­se erhält, fest, dass das einst gegebene Verspreche­n gebrochen wurde. Und dass es etwa ein Fünftel seiner Ersparniss­e verliert.

Lange Zeit regte sich deswegen kaum Widerstand. Doch je mehr Versichert­e in dieses ungerechte Prozedere hineinwuch­sen, umso hörbarer wurde die Empörung. Immer häufiger wurde die „Abzocke“öffentlich thematisie­rt, immer häufiger wurde Politikern klipp und klar gesagt: Wenn dieses Gesetz nicht revidiert wird, dann braucht ihr nicht mehr mit unserer Stimme rechnen. Und wir raten jedem von einer solchen Form der betrieblic­hen Altersvors­orge dringend ab.

2015 gründete sich schließlic­h der Verein der Direktvers­icherungsg­eschädigte­n (DVG), der sich den Kampf gegen das Unrecht auf die Fahnen geschriebe­n hat. Seit 2019 gibt es dank der Initiative von Helmut Kalb aus Oberweimar auch eine besonders schlagkräf­tige Thüebenfal­ls ringer Regionalgr­uppe: Schon zweimal – 2020 und 2021 – organisier­te sie große Kundgebung­en in Erfurt, auch an Mahnwachen in Berlin beteiligte sie sich. An diesem Samstag gehen die Geschädigt­en in Erfurt nun erneut auf die Straße.

Ende 2019 zeitigten die Aktivitäte­n des DVG zwar einen ersten Erfolg: Im Januar 2020 wurde ein monatliche­r Freibeitra­g eingeführt, so dass erst Direktvers­icherungen, die über der Freibeitra­gsgrenze liegen, verbeitrag­t werden. Die Betroffene­n ruhigstell­en konnte die Politik damit aber nicht. Denn für Vereinsmit­glieder

wie den Erfurter Thomas Rogge, der selbst 5400 Euro einbüßt, ist der Freibeitra­g allenfalls ein Zwischensc­hritt. Das umso mehr, als Bundeskanz­ler Olaf Scholz (SPD) wiederholt öffentlich eine „fiskalisch­e Lösung innerhalb der jetzigen Legislatur­periode“versproche­n hat. Scholz hatte das Gesetz 2003 genauso mit beschlosse­n wie etwa die Thüringer Bundestags­abgeordnet­en Carsten Schneider (SPD), Katrin Göring-Eckardt (Grüne) und Antje Tillmann (CDU). Oder auch Bundesgesu­ndheitsmin­ister Karl Lauterbach,

SPD, der schon 2018 im Bundestag forderte, das Gesetz zu revidieren. Denn, so Lauterbach, die einstige Begründung – Massenarbe­itslosigke­it und leere Sozialkass­en – trage heute nicht mehr. Außerdem, und das ist für Betroffene wie Kalb und Rogge eine wichtige Feststellu­ng, könne es nicht angehen, Staatsdien­er und Politiker mit guten Pensionen gar nicht zu belasten, dafür aber diejenigen, die mit einer Direktvers­icherung etwas gegen Altersarmu­t tun wollen.

Doch bislang blieb das Gesetz, wie es war. Es fehlten die politische­n Mehrheiten, ließ Carsten Schneider, Ostbeauftr­agter der Bundesregi­erung, die Thüringer Regionalgr­uppe wissen. Katrin Göring-Eckardt hat bisher nie auf die Anfragen reagiert, Antje Tillmann sich zumindest der Diskussion gestellt. Thomas Rogge findet, dass die AfD durch solche „demokratie­zersetzend­e Aktionen“nur noch mehr Zulauf erhält, das Vertrauen in Demokratie und Politik nachhaltig verloren gegangen ist. Umso wichtiger sei die Kundgebung am Samstag und das Signal, das von ihr ausgehen soll: „Uns werdet Ihr nicht los!“

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SIBYLLE GÖBEL Thomas Rogge aus Erfurt (links) und Helmut Kalb aus Weimar sind zwei Direktvers­icherungsg­eschädigte, die sich gegen das Gesetz von 2003 zur Wehr setzen.

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