Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)
Neuer Protest gegen ungerechtes Gesetz
Direktversicherungsgeschädigte gehen in Erfurt gegen staatlich verordnete „Abzocke“auf die Straße
Man stelle sich einmal Folgendes vor: Jemand schließt eine kapitalbildende Lebensversicherung ab, zahlt dafür fleißig Jahr für Jahr ein und freut sich nach Ablauf der Vertragslaufzeit auf die Auszahlung. Doch genau in dem Moment kommt die Krankenkasse des Wegs und hält die Hand auf: Tut uns leid, wir stecken in den Miesen. Deshalb fordern wir ab sofort zehn Jahre lang jeden Monat die vollen Kassenbeiträge auf die angesparte Summe.
Unvorstellbar? In einem Rechtsstaat ausgeschlossen? Von wegen: Genau das ist in Deutschland passiert. Alle Arbeitnehmer, die über ihren Betrieb eine sogenannte Direktversicherung abgeschlossen und damit fürs Alter vorgesorgt haben, werden auf diese Weise zur Kasse gebeten. 2003, als die Defizite der gesetzlichen Krankenversicherungen gigantisch waren, beschloss der Bundestag mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz ein solches Vorgehen. Und: Von dieser Festlegung waren auch sämtliche Altverträge betroffen. Das heißt, auch diejenigen Arbeitnehmer, die ihre Verträge zu völlig anderen Bedingungen abgeschlossen haben, müssen seither zahlen.
Aufgefallen ist das allerdings erst, als es zu ersten Auszahlungen kam. Denn weder die Arbeitgeber, über die die Versicherungen abgeschlossen wurden, noch die Versicherungen wurden verpflichtet, den Sparern reinen Wein einzuschenken. Das Gros der Versicherten stellt erst dann, wenn es die Rechnung seiner Krankenkasse erhält, fest, dass das einst gegebene Versprechen gebrochen wurde. Und dass es etwa ein Fünftel seiner Ersparnisse verliert.
Lange Zeit regte sich deswegen kaum Widerstand. Doch je mehr Versicherte in dieses ungerechte Prozedere hineinwuchsen, umso hörbarer wurde die Empörung. Immer häufiger wurde die „Abzocke“öffentlich thematisiert, immer häufiger wurde Politikern klipp und klar gesagt: Wenn dieses Gesetz nicht revidiert wird, dann braucht ihr nicht mehr mit unserer Stimme rechnen. Und wir raten jedem von einer solchen Form der betrieblichen Altersvorsorge dringend ab.
2015 gründete sich schließlich der Verein der Direktversicherungsgeschädigten (DVG), der sich den Kampf gegen das Unrecht auf die Fahnen geschrieben hat. Seit 2019 gibt es dank der Initiative von Helmut Kalb aus Oberweimar auch eine besonders schlagkräftige Thüebenfalls ringer Regionalgruppe: Schon zweimal – 2020 und 2021 – organisierte sie große Kundgebungen in Erfurt, auch an Mahnwachen in Berlin beteiligte sie sich. An diesem Samstag gehen die Geschädigten in Erfurt nun erneut auf die Straße.
Ende 2019 zeitigten die Aktivitäten des DVG zwar einen ersten Erfolg: Im Januar 2020 wurde ein monatlicher Freibeitrag eingeführt, so dass erst Direktversicherungen, die über der Freibeitragsgrenze liegen, verbeitragt werden. Die Betroffenen ruhigstellen konnte die Politik damit aber nicht. Denn für Vereinsmitglieder
wie den Erfurter Thomas Rogge, der selbst 5400 Euro einbüßt, ist der Freibeitrag allenfalls ein Zwischenschritt. Das umso mehr, als Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wiederholt öffentlich eine „fiskalische Lösung innerhalb der jetzigen Legislaturperiode“versprochen hat. Scholz hatte das Gesetz 2003 genauso mit beschlossen wie etwa die Thüringer Bundestagsabgeordneten Carsten Schneider (SPD), Katrin Göring-Eckardt (Grüne) und Antje Tillmann (CDU). Oder auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach,
SPD, der schon 2018 im Bundestag forderte, das Gesetz zu revidieren. Denn, so Lauterbach, die einstige Begründung – Massenarbeitslosigkeit und leere Sozialkassen – trage heute nicht mehr. Außerdem, und das ist für Betroffene wie Kalb und Rogge eine wichtige Feststellung, könne es nicht angehen, Staatsdiener und Politiker mit guten Pensionen gar nicht zu belasten, dafür aber diejenigen, die mit einer Direktversicherung etwas gegen Altersarmut tun wollen.
Doch bislang blieb das Gesetz, wie es war. Es fehlten die politischen Mehrheiten, ließ Carsten Schneider, Ostbeauftragter der Bundesregierung, die Thüringer Regionalgruppe wissen. Katrin Göring-Eckardt hat bisher nie auf die Anfragen reagiert, Antje Tillmann sich zumindest der Diskussion gestellt. Thomas Rogge findet, dass die AfD durch solche „demokratiezersetzende Aktionen“nur noch mehr Zulauf erhält, das Vertrauen in Demokratie und Politik nachhaltig verloren gegangen ist. Umso wichtiger sei die Kundgebung am Samstag und das Signal, das von ihr ausgehen soll: „Uns werdet Ihr nicht los!“