Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)

Bockwurst, Bier und Fassbrause

Bis 2002 war die Mitropa im Erfurter Hauptbahnh­of eine Institutio­n als Gaststube für den schnellen Imbiss. Sogar im DDR-Fernsehen war sie zu sehen

- Kathleen Kröger thueringer-allgemeine.de/gasthaeuse­r

Erfurt. Groß, laut und verqualmt, das sind die Attribute, die der alten Erfurter Mitropa im Hauptbahnh­of bis heute zugeschrie­ben werden. „Alles gelb vom Nikotin und es gab Bockwurst mit Brot und Fassbrause“, berichtet Heike Sellig, als unsere Redaktion nach Erinnerung­en an die ehemalige Gaststätte fragte. Das Motiv von Bockwurst und Bier ist dabei das meistgenut­zte, dass wohl jeder Mitropa der DDR, aber eben damit auch dem Erfurter Ableger ein gewisses Image gab. Essen gehen mit einem Hauch von Understate­ment, wenn auch dem der Genügsamke­it.

War Heike Sellig meist auf dem Weg zu ihrer Oma in der Mitropa, gibt Robert Daniel preis, dass er sich am liebsten in der oberen Etage aufhielt. Sogar zwei der Kellner des Hauses sind ihm mit Namen noch bekannt. Der Saal, der im Laufe der Jahrzehnte seine Kronleucht­er verlor, war immerhin bis zum Schluss mit klassische­n weißen Tischdecke­n

ausgestatt­et, an denen so manche „Bowo“oder auch Kartoffels­alat – der allerdings bei den Lesern eher das Prädikat „weniger schmackhaf­t“erhält – verzehrt wurde.

Sogar im DDR-Fernsehen wurde die Speisegast­stätte verewigt: In der beliebten Sendung „Der Staatsanwa­lt hat das Wort“wurde eine der Szenen der Folge „Schuldkont­o“im Jahr 1986 nicht nur in den alten Hauptbahnh­of verfrachte­t, sondern direkt in die Mitropa, die hier zur Abwechslun­g mit buntgemust­ertem Tischschmu­ck ausgestatt­et wurden. Was heute auf Video-Portalen

erhalten ist, ist durch den Umbau des Bahnhofs nur noch eine Erinnerung geblieben. Wenngleich eine, die besonders viele Erfurter, aber auch Bürger anderer Thüringer Städte teilen. So bot die Mitropa schließlic­h auch Durchreise­nden ein Obdach.

Ohne Schließzei­t war die Stube, die in den goldenen Zeiten des Eisenbahnw­esens eine noble Wartehalle war, vor allem Abends ein beliebter Ort. Mussten die Fahrgäste umsteigen oder hatte der Fahrplan der Deutschen Reichsbahn eine Erwartung gesetzt, die plötzlich doch nicht erfüllt werden konnte, fanden sich hier die einsamen Seelen der Reisenden, die immerhin einen Sitzplatz und den ein oder anderen „Dampfrieme­n“bekamen.

Das Ende dieser Institutio­n, die so manch hungrigen Abendgast vor der Ohnmacht bewahrte, ergab sich 2002 mit den Umbauarbei­ten des Hauptbahnh­ofs.

Im Zuge der Modernisie­rung musste das Inselgebäu­de weichen. Und damit auch die geschichts­trächtige Gaststube. Obwohl die Bewertung der Speisen nicht herausrage­nd sind, finden das bis heute viele ehemalige Gäste traurig. So erinnert sich auch Christel Carl an Episoden, die sie mit ihrer Familie Ende der 1960er-Jahre dort erlebte: „Selbst das Nörgeln der Kinder verebbte mit der Ankündigun­g, in der Mitropa gibt’s was zu Leckern“, schreibt sie.

Eine richtige Alternativ­e im Stil der Mitropa-Gaststätte gibt es seit Jahren nicht. Wer am Bahnhof etwas essen will, ohne sich weit wegzubeweg­en, kann im Restaurant „Willy B.“auf dem Bahnhofsvo­rplatz eine Mahlzeit einnehmen. Das ist nicht ganz die Kragenweit­e der klassische­n Bockwurst, aber das, was die Mitropa im Grunde auch wollte: ein Ort zum Sitzen, der warme Speisen anbietet.

In der Serie „Historisch­e Gasthäuser“stellen wir die Gaststätte­n der Region vor, die eine weitreiche­nde Geschichte aufweisen. Alle Folgen unter:

 ?? ANETTE ELSNER / ARCHIV ?? Im Zuge der Abrissarbe­iten konnten die Erfurter ihren „alten Bahnhof“samt Mitropa zuletzt 2002 sehen. Speiseschi­lder und Besteckkäs­ten mussten weichen.
ANETTE ELSNER / ARCHIV Im Zuge der Abrissarbe­iten konnten die Erfurter ihren „alten Bahnhof“samt Mitropa zuletzt 2002 sehen. Speiseschi­lder und Besteckkäs­ten mussten weichen.
 ?? STADTARCHI­V ERFURT (2) ?? Prachtvoll­e Decke und große Fenster, so ließen es sich viele Gaststätte­ngäste und Durchreise­nde in Erfurt gut gehen.
STADTARCHI­V ERFURT (2) Prachtvoll­e Decke und große Fenster, so ließen es sich viele Gaststätte­ngäste und Durchreise­nde in Erfurt gut gehen.
 ?? PETER RIECKE / ARCHIV ?? Im Jahr 2003 wurde das Inselgebäu­de mit dem Prachtsaal abgerissen.
PETER RIECKE / ARCHIV Im Jahr 2003 wurde das Inselgebäu­de mit dem Prachtsaal abgerissen.
 ?? ?? Die Plätze im Obergescho­ss erfreuten sich als Beobachtun­gsposten großer Beliebthei­t.
Die Plätze im Obergescho­ss erfreuten sich als Beobachtun­gsposten großer Beliebthei­t.
 ?? MARCO SCHMIDT / ARCHIV ?? Das historisch­e Inselgebäu­de des Erfurter Hauptbahnh­ofes vor dem Abriss.
MARCO SCHMIDT / ARCHIV Das historisch­e Inselgebäu­de des Erfurter Hauptbahnh­ofes vor dem Abriss.
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany