Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)
Bockwurst, Bier und Fassbrause
Bis 2002 war die Mitropa im Erfurter Hauptbahnhof eine Institution als Gaststube für den schnellen Imbiss. Sogar im DDR-Fernsehen war sie zu sehen
Erfurt. Groß, laut und verqualmt, das sind die Attribute, die der alten Erfurter Mitropa im Hauptbahnhof bis heute zugeschrieben werden. „Alles gelb vom Nikotin und es gab Bockwurst mit Brot und Fassbrause“, berichtet Heike Sellig, als unsere Redaktion nach Erinnerungen an die ehemalige Gaststätte fragte. Das Motiv von Bockwurst und Bier ist dabei das meistgenutzte, dass wohl jeder Mitropa der DDR, aber eben damit auch dem Erfurter Ableger ein gewisses Image gab. Essen gehen mit einem Hauch von Understatement, wenn auch dem der Genügsamkeit.
War Heike Sellig meist auf dem Weg zu ihrer Oma in der Mitropa, gibt Robert Daniel preis, dass er sich am liebsten in der oberen Etage aufhielt. Sogar zwei der Kellner des Hauses sind ihm mit Namen noch bekannt. Der Saal, der im Laufe der Jahrzehnte seine Kronleuchter verlor, war immerhin bis zum Schluss mit klassischen weißen Tischdecken
ausgestattet, an denen so manche „Bowo“oder auch Kartoffelsalat – der allerdings bei den Lesern eher das Prädikat „weniger schmackhaft“erhält – verzehrt wurde.
Sogar im DDR-Fernsehen wurde die Speisegaststätte verewigt: In der beliebten Sendung „Der Staatsanwalt hat das Wort“wurde eine der Szenen der Folge „Schuldkonto“im Jahr 1986 nicht nur in den alten Hauptbahnhof verfrachtet, sondern direkt in die Mitropa, die hier zur Abwechslung mit buntgemustertem Tischschmuck ausgestattet wurden. Was heute auf Video-Portalen
erhalten ist, ist durch den Umbau des Bahnhofs nur noch eine Erinnerung geblieben. Wenngleich eine, die besonders viele Erfurter, aber auch Bürger anderer Thüringer Städte teilen. So bot die Mitropa schließlich auch Durchreisenden ein Obdach.
Ohne Schließzeit war die Stube, die in den goldenen Zeiten des Eisenbahnwesens eine noble Wartehalle war, vor allem Abends ein beliebter Ort. Mussten die Fahrgäste umsteigen oder hatte der Fahrplan der Deutschen Reichsbahn eine Erwartung gesetzt, die plötzlich doch nicht erfüllt werden konnte, fanden sich hier die einsamen Seelen der Reisenden, die immerhin einen Sitzplatz und den ein oder anderen „Dampfriemen“bekamen.
Das Ende dieser Institution, die so manch hungrigen Abendgast vor der Ohnmacht bewahrte, ergab sich 2002 mit den Umbauarbeiten des Hauptbahnhofs.
Im Zuge der Modernisierung musste das Inselgebäude weichen. Und damit auch die geschichtsträchtige Gaststube. Obwohl die Bewertung der Speisen nicht herausragend sind, finden das bis heute viele ehemalige Gäste traurig. So erinnert sich auch Christel Carl an Episoden, die sie mit ihrer Familie Ende der 1960er-Jahre dort erlebte: „Selbst das Nörgeln der Kinder verebbte mit der Ankündigung, in der Mitropa gibt’s was zu Leckern“, schreibt sie.
Eine richtige Alternative im Stil der Mitropa-Gaststätte gibt es seit Jahren nicht. Wer am Bahnhof etwas essen will, ohne sich weit wegzubewegen, kann im Restaurant „Willy B.“auf dem Bahnhofsvorplatz eine Mahlzeit einnehmen. Das ist nicht ganz die Kragenweite der klassischen Bockwurst, aber das, was die Mitropa im Grunde auch wollte: ein Ort zum Sitzen, der warme Speisen anbietet.
In der Serie „Historische Gasthäuser“stellen wir die Gaststätten der Region vor, die eine weitreichende Geschichte aufweisen. Alle Folgen unter: