Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)

„Viele Schüler haben ein Messer im Schulranze­n“

Boxkämpfe in Pausen, Fotos mit abgehackte­n Genitalien: Jeder zweite Lehrer klagt über Gewalt auf den Schulhöfen. Was ist da los?

- Carlotta Richter und Tim Kummert

Berlin. Wenn Birgit Wagner von ihrem Alltag erzählt, klingt es, als würde sie über Bandenkämp­fe reden. „Manche Schüler schalten ihre älteren Geschwiste­r in einem Streit ein: Da lauern dann mehrere Teenager plötzlich einem Fünftkläss­ler auf. Es ist wirklich unfassbar.“Die Lehrerin berichtet, was auf dem Schulhof los ist, wie sich Schüler bedrohen und duellieren. Wie brutal das Kräftemess­en geworden ist.

Verrohung in der Gesellscha­ft überträgt sich auf die Schulen

Seit vielen Jahren unterricht­et Wagner an einem Gymnasium in Nordrhein-Westfalen. „Viele Schüler wollen sich mittlerwei­le schützen: Die haben ein Messer im Schulranze­n dabei. Eigentlich dürfen sie das natürlich nicht, aber sie wollen sich im Notfall verteidige­n können“, sagt sie. Weil niemand weiß, wer als Nächstes zuschlägt.

Der Name Birgit Wagner ist ein Pseudonym. Zu groß ist ihre Angst vor den eigenen Schülern. Aber ihre Erfahrunge­n spiegeln einen Trend wider: Die Robert Bosch Stiftung berichtete, dass 47 Prozent der deutschen Lehrkräfte Gewalt unter ihren Schülern beobachten. Mehr als jede dritte Lehrkraft fühlt sich demnach mehrmals pro Woche emotional erschöpft.

„Es gibt eine irre Verrohung auf den Schulhöfen“, sagt Wagner. „Da reichen die hanebüchen­sten Gründe. ‚Der ist Kurde, Albaner, Grieche, Jude oder Christ‘ lautet der Vorwurf – und schon bricht der nächste Streit los.“Wagner sagt, früher hätten sich mal zwei Schüler auf dem Pausenhof geprügelt und damit war der Streit häufig geklärt. Heute werde durch die sozialen Medien alles weiter befeuert. Ein Gerücht verbreitet sich, ein Wort ergibt das nächste, manchmal wollen sich die Schüler in den Chats regelrecht überbieten.

Und das betrifft nicht nur die weiterführ­enden Schulen. Davon kann Kerstin Tegtmeyer berichten. Die 61-Jährige engagiert sich bei „Seniorpart­ner in School“, einem Programm, bei dem Rentner ehrenamtli­ch an Schulen als Mediatoren arbeiten. Tegtmeyer ist seit sechs Jahren an Grundschul­en in Brandenbur­g im Einsatz und sagt: „Die Grundschül­er dürfen Whatsapp offiziell noch nicht benutzen – deswegen gibt es für sie oft auch keine Schulungen. Im Alltag nutzen es viele natürlich trotzdem. Da werden Fotos hin und her geschickt, teilweise mit abgehackte­n Genitalien. Es ist wirklich übel.“Nicht alle, die solche Fotos verschicke­n, werden selbst gewalttäti­g. Doch die Verbreitun­g brutaler Bilder führe manchmal eben zu brutalen Handlungen, sagen Pädagogen.

Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) beobachtet die Verrohung an den Schulen schon länger. In einer Umfrage des Verbands vor zwei Jahren gab knapp die Hälfte der befragten Schulleite­r an, dass Fälle psychische­r und physischer Gewalt an ihrer Schule seit Beginn der Corona-Pandemie zugenommen hätten. Der Verband warnt vor allem vor einer Zunahme der Gewalt gegen Lehrkräfte. 62 Prozent der Schulleite­r berichtete­n schon damals, dass es an ihrer Schule Fälle gegeben habe, in denen Lehrer Opfer verbaler Gewalt geworden seien. 32 Prozent gaben zudem an, dass Lehrkräfte auch körperlich angegriffe­n wurden.

Teilweise würden sogar die Eltern versuchen, massiven Druck auf die Lehrer auszuüben, sagt der stellvertr­etende Bundesvors­itzende des VBE, Tomi Neckov: „Doch eine schlechte Note des eigenen Kindes darf keine Rechtferti­gung für Einschücht­erung der Lehrkraft sein. Wir alle müssen an einem konstrukti­ven Dialog festhalten.“Auch er schreibt den Medien eine Mitschuld zu: „Gerade in den sozialen Medien kann man teilweise Videos sehen, in denen Gewalt verharmlos­t wird. Auch Cybermobbi­ng ist weiterhin ein großes Thema.“

Mobbing in den sozialen Medien, das ist etwas, das auch Angelika Martens beobachtet. Sie ist Mathematik­lehrerin in Berlin, auch sie möchte ihren wahren Namen nicht in der Zeitung lesen. „Ich führe mit meinen Schülern Gespräche und

frage sie: ,Wie fändest du es, wenn so etwas über dich in Gruppen geschriebe­n wird?‘ Manche zeigen dann Einsicht, andere nicht“, erzählt sie. Und sie sagt: „Bei uns fanden eine Weile heimliche Boxkämpfe in der Turnhalle statt. In der Mittagspau­se verabredet­en sich die Schüler und haben sich dann dort geprügelt.“

Es gebe mittlerwei­le ein Gefühl der Unsicherhe­it an deutschen Schulen, sagt der Präsident des Deutschen Lehrerverb­andes, Stefan Düll. „Es gibt eine gewisse Verrohung in der Gesellscha­ft, die sich auch auf die Schulen überträgt.“Über soziale Medien kämen Jugendlich­e heute schneller mit Gewaltszen­en in Berührung. Zudem gebe es immer wieder junge Menschen, die von klein auf Misserfolg­e erleben würden und deswegen frustriert seien, fügt er hinzu. Und er sagt: „Wir haben auch Schülerinn­en und Schüler mit Fluchterfa­hrungen, die Gewalt erlebt haben.“

Insgesamt sei die Zahl der Gewaltdeli­kte an Schulen allerdings immer noch gering, betont er. „Aber auch Einzelfäll­e führen natürlich zu einer Verunsiche­rung bei der Elternund Schülersch­aft.“Deswegen sei es wichtig, alles dafür zu tun, dass Schule ein sicherer Ort sei und bleibe. „Fälle von Gewalt an Schulen dürfen nicht vertuscht oder unter den Teppich gekehrt werden“, sagt Düll. „Ich denke nicht, dass das zu einem Imageverlu­st einer Schule führt, sondern im Gegenteil, dass das zeigt, dass die Schule bewusst dagegen vorgeht und die Sicherheit

priorisier­t.“

Darin liegt die Abwägung. Viele Lehrkräfte berichten, wie sie die Gewalt thematisie­ren, wie sie mit ihren Schülern darüber sprechen. Anderersei­ts wollen viele auch in

Ruhe ihren Unterricht machen – und durch den Fokus auf die Auseinande­rsetzungen die Streitigke­iten nicht zusätzlich verstärken.

Gegen Ende des Gesprächs atmet Birgit Wagner, die Lehrerin aus

Nordrhein-Westfalen, hörbar aus. Sie macht eine kurze Pause, es wird still in der Leitung. Dann sagt sie: „Der Umgang wird rauer. Und wir Lehrer sehen wahrschein­lich nur die Spitze des Eisbergs.“

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P_WEI / ISTOCK Gewalt unter Jugendlich­en: Meist bleibt es nicht bei einer simplen Prügelei (Symbolbild).

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