Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)
Der Unbequeme
Seit zwölf Jahren ist Reinhard Schramm Vorsitzender der jüdischen Landesgemeinde. An diesem Mittwoch wird er 80
Am Vormittag hat er die USBotschafterin in der Alten Synagoge getroffen, dann, vor diesem Gespräch, die Pressekonferenz im Erfurter Rathaus zur ersten Stolperstein-Verlegung in der Stadt, und eigentlich steht am Abend noch der Jahresempfang der CDU im Terminkalender … Er könnte kürzertreten und sollte es für seine Gesundheit wohl auch. Seit zwölf Jahren ist Reinhard Schramm Vorsitzender der jüdischen Landesgemeinde. 80 Jahre wird er heute.
Als er 1944 in Weißenfels geboren wurde, lebte von der jüdischen Familie seiner Mutter niemand mehr. Alle tot, weil sie Juden waren. Ihr Mann, ein christlicher Lehrer, verweigerte die Scheidung, konnte seine Frau schützen, bis sie im Februar 1945 auch die letzten Juden aus sogenannten Mischehen und ihre Kinder abholten. Er versteckte sie und den Sohn erst auf dem Dachboden, die letzten Wochen vor Kriegsende verbargen sie Freunde in einem Schrebergarten.
Schicksal seiner Familie prägt ihn bis heute
Als die Amerikaner Weißenfels befreiten, war Reinhard Schramm kein Jahr alt. Die Tragödie seiner Familie erlebte er im Schmerz der Mutter an den Todestagen der ermordeten Verwandten. Jahr um Jahr. Das ist geblieben, das prägt seine Sicht auf die Welt und die Menschen bis heute. Hätte es schon 1933 einen jüdischen Staat gegeben, wäre er vielleicht mit einem Onkel, Tanten, mit einer Großmutter aufgewachsen.
Er war elf oder zwölf Jahre alt, als er einen Schuhkarton mit vergilbten Papieren fand. Eine Hinterlassenschaft der Schuhfabrik, die der Familie gehörte, bis die Nazis sie enteigneten. Zensierte Briefe, die Verwandte aus den Konzentrationslagern geschickt hatten, Todesbenachrichtigungen, Auflagen und Anordnungen an die Familie, Rechnungen für angebliche Straßenausbaukosten. Korrekt und säuberlich berechnet und aufgelistet. In Buchhaltung waren sie gut, die Nazis.
Jahre später sollten ihm diese Papiere für sein Buch über die Juden von Weißenfels eine Quelle
sein. Damals war er nicht vorbereitet, er war elf oder zwölf. Über die Tragödie ihrer Familie hatte seine Mutter mit ihm nicht gesprochen. Sie wollte ihn schützen und auch sich selbst.
Bis zu jenem Tag, als im Fernsehen Bilder vom Eichmann-Prozess in Jerusalem liefen. Seine Mutter erkannte in einem der drei Richter ihren einstigen Schulkameraden aus Weißenfels. So aufgewühlt hatte er sie noch nie erlebt. Das war 1961 und seine Mutter begann zu reden.
Sie schrieben Benjamin Halevi nach Israel, und nachdem sein Brief dort in einer Zeitung erschien, bekamen sie Post von Juden aus Weißenfels, die Deutschland rechtzeitig verlassen hatten. Lebenswege, Familienschicksale. Nachdenklich und mitteilsam. Aber manche verstanden das nicht: Wie die Mutter nach all dem in Deutschland leben könne. Wie sie es überhaupt schaffen konnte. Als müsse sich eine Überlebende für ihr Überleben rechtfertigen.
Für ihn, er studierte Elektrotechnik in Polen, wurde Dozent und Professor an der Technischen Universität Ilmenau, fühlte sich das Leben
in der DDR richtig an. Und in den späten Jahren glaubte er an eine Reformierbarkeit des Sozialismus. Und Israel? Sein Existenzrecht habe die DDR nie infrage gestellt. Aber die ideologisch indoktrinierte Sicht auf das Land als Speerspitze des Imperialismus in Nahost, hatte er als schmerzhaft empfunden.
In ihren letzten Lebensjahren wurden für seine Mutter, die nie sehr religiös war, die Besuche in der Erfurter Synagoge wichtig. Er bedauert es bis heute, sie nie nach den Gründen gefragt zu haben. Aber er begleitete sie, wurde ab 1988 in der jüdischen Landesgemeinde aktiv. Die Entdeckung einer besonderen Nähe, einer Gemeinschaft von Menschen, die Familienschicksale teilten.
Als er 2012 nach dem Tod seines Vorgängers Wolfgang Nossen den Vorsitz übernahm, war die kleine Gemeinde durch den Zuzug vieler Familien aus den Ländern der Sowjetunion längst gewachsen. Wenn man ihn nach spürbaren Veränderungen fragt, muss er nicht lange überlegen: Wir sind sichtbarer geworden. Als im April 2000 jugendliche Rechtsextremisten die Erfurter
Synagoge in Brand setzen wollten, fuhr er ins Gefängnis, um mit dem Hauptverdächtigen zu sprechen. In seiner Gemeinde konnte das niemand verstehen. Er aber musste an die Verzweiflung seines ältesten Sohnes denken, als er 1988 wegen versuchter Republikflucht im Gefängnis saß. Und daran, dass ein junger Mensch die Chance auf Änderung bekommen muss.
Als 1938 die Synagogen brannten, führte das ins Gas von Auschwitz. Wenn junge Menschen diesen Bezug nicht erkennen, dann haben auch die Demokraten etwas falsch gemacht. Er ging danach viele Jahre lang in Haftanstalten, um mit rechtsextremen Gewalttätern zu reden.
Und wenn der Antisemitismus von anderer Seite kommt, ist er ebenso entschieden. Von einigen jungen Muslimen, ein schwieriges Thema, auch in Schulen, das gern ausgeblendet wird. Da konnte er schon immer unbequem werden. Natürlich, sagt er, ist vielen palästinensischen Familien Unrecht geschehen. Aber das darf keinen pauschalen Antisemitismus begründen. Darüber muss man mit ihnen sprechen, über deutsche Geschichte und die Konsequenzen daraus, die in diesem Land gelten.
Die schmerzhafte Zäsur des 7. Oktober
Und dann der 7. Oktober. Als er am Abend beim Konzert der israelischen Künstlerin Jael Deckelbaum in Erfurt kurz auf der Bühne sprach, war ihm seine Erschütterung anzumerken. Eine Zäsur. Und für die Juden in Deutschland der schwärzeste Tag der Nachkriegszeit. Nur wenige Stunden nach dem Pogrom feiern muslimische Antisemiten auf den Straßen von Berlin den Massenmord an Juden. Ungehemmt und ungestraft, weil der Staat unfähig war, dieser Schande zu begegnen. So sagt er es.
Die Demokraten haben 1938 die Juden nicht gerettet, sagt er. Und heute? Müsste der Kampf gegen den Terror der Hamas nicht genauso eine Angelegenheit der Weltgemeinschaft sein, wie damals gegen den des IS? Israel soll es allein tun. Und wenn es das falsch tut, sind daran nicht auch diejenigen mit schuld, die nichts gegen Judenhass im arabischen Raum getan haben, obwohl sie die Macht dazu hätten? Es ist, man spürt es schnell, ein schmerzhaftes Thema für ihn. Über Fehler Israels müsse man reden. Aber man darf doch nicht Ursache und Wirkung verwechseln.
Er stellt fest, wie das Thema viele an den Rand ihrer Möglichkeiten treibt. Um nichts Falsches zu sagen, geht man auf Abstand, zu beiden Seiten. So hat er es empfunden, als sie als Landesgemeinde von den Anti-Rechts-Demos zu Jahresbeginn ausgeschlossen waren, wie die Kulturbrücke Palästina auch. Wenn er mit Menschen spricht, die sich mit jüdischen und israelischen Themen befassen und Angeboten dazu, berichten sie oft von einer Distanziertheit. Nein, er ist nicht verzweifelt. Aber er zweifelt jetzt öfter.
80 Jahre wird Reinhard Schramm heute. Er gehöre zu jenen, die Tacheles reden, wenn es um gesellschaftliche Entwicklungen geht, schreibt Charlotte Knobloch in ihrem Glückwunschbrief. Man kann ihm dafür nur weiter Kraft wünschen. Oder, wie es bei einem jüdischen Geburtstag heißt, Mazel Tov bis 120.