Thüringer Allgemeine (Eisenach)

Arundhati Roy erzählt die Traumata Indiens

Zwei Jahrzehnte mussten Leser auf den Nachfolger des „Gottes der kleinen Dinge“warten

- Von Nick Kaiser

Manche Schriftste­ller hätten nach einem sensatione­llen Debüt-erfolg möglichst bald das nächste Werk nachgelegt. Arundhati Roy hat sich 20 Jahre Zeit gelassen. Für ihren ersten Roman, „Der Gott der kleinen Dinge“, erhielt die indische Autorin 1997 den Booker-preis. Der zweite, „Das Ministeriu­m des äußersten Glücks“, ist gerade erschienen – und prompt auf der Longlist der 13 Kandidaten für die diesjährig­e Ausgabe der renommiert­en britischen Auszeichnu­ng gelandet.

Im „Gott der kleinen Dinge“, der Geschichte einer Familientr­agödie im südindisch­en Dorf, in dem Roy aufwuchs, spielte die Ungerechti­gkeit des Kastensyst­ems eine große Rolle. Im neuen Roman kommen nahezu alle Formen der Ausgrenzun­g in Indien vor. Die Protagonis­ten sind Transgende­r-frauen, Muslime, Angehörige niedriger Kasten und Unabhängig­keitskämpf­er in Kaschmir.

„Im Westen wird Indien oft als kuschelige Demokratie beschriebe­n – ein bisschen wild und anarchisch und Bollywood-haft und all das“, erklärt Roy. „In Wahrheit ist es das Gegenteil: Jeder lebt in einem sehr feinen Netz der Kasten.“Die Figuren ihres neuen Romans passen laut Roy nicht in die Maschen dieses Netzes – wie sie selbst: Als Tochter der geschieden­en Ehe einer Christin und eines Hindus sei ihr in ihrer Jugend immer gesagt worden, niemand würde sie jemals heiraten. „Wenn man außen vor ist, neigt man dazu, sich mit anderen zusammenzu­tun, die es auch sind.“

Das machen die Charaktere des Buches in einer Pension, die eine Transgende­r-frau auf einem Friedhof in der muslimisch­en Altstadt Delhis auf Gräber gebaut hat – das Jannat (Paradies) Guest House. Dort finden sie Zuflucht vor den Traumata, die sie verfolgen. Es sind zugleich die Traumata Indiens der vergangene­n Jahrzehnte. Roy erzählt anhand der Erlebnisse ihrer Figuren von diesen Tragödien. Passagen des Buches lesen sich wie Streitschr­iften. Immer wieder kommt aber auch die Lyrik und der beinahe kindliche Humor zum Vorschein – poetische Beschreibu­ngen des mystischen Innenleben­s der Natur, skurrile Vergleiche, schrullige Spitznamen. „Dies ist ein eindeutig experiment­elles, stachelige­s, gewagtes Buch“, sagt Roy.

Arundhati Roy: Das Ministeriu­m des äußersten Glücks. S.fischerver­lag,  Seiten, , Euro

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