Thüringer Allgemeine (Eisenach)
Arundhati Roy erzählt die Traumata Indiens
Zwei Jahrzehnte mussten Leser auf den Nachfolger des „Gottes der kleinen Dinge“warten
Manche Schriftsteller hätten nach einem sensationellen Debüt-erfolg möglichst bald das nächste Werk nachgelegt. Arundhati Roy hat sich 20 Jahre Zeit gelassen. Für ihren ersten Roman, „Der Gott der kleinen Dinge“, erhielt die indische Autorin 1997 den Booker-preis. Der zweite, „Das Ministerium des äußersten Glücks“, ist gerade erschienen – und prompt auf der Longlist der 13 Kandidaten für die diesjährige Ausgabe der renommierten britischen Auszeichnung gelandet.
Im „Gott der kleinen Dinge“, der Geschichte einer Familientragödie im südindischen Dorf, in dem Roy aufwuchs, spielte die Ungerechtigkeit des Kastensystems eine große Rolle. Im neuen Roman kommen nahezu alle Formen der Ausgrenzung in Indien vor. Die Protagonisten sind Transgender-frauen, Muslime, Angehörige niedriger Kasten und Unabhängigkeitskämpfer in Kaschmir.
„Im Westen wird Indien oft als kuschelige Demokratie beschrieben – ein bisschen wild und anarchisch und Bollywood-haft und all das“, erklärt Roy. „In Wahrheit ist es das Gegenteil: Jeder lebt in einem sehr feinen Netz der Kasten.“Die Figuren ihres neuen Romans passen laut Roy nicht in die Maschen dieses Netzes – wie sie selbst: Als Tochter der geschiedenen Ehe einer Christin und eines Hindus sei ihr in ihrer Jugend immer gesagt worden, niemand würde sie jemals heiraten. „Wenn man außen vor ist, neigt man dazu, sich mit anderen zusammenzutun, die es auch sind.“
Das machen die Charaktere des Buches in einer Pension, die eine Transgender-frau auf einem Friedhof in der muslimischen Altstadt Delhis auf Gräber gebaut hat – das Jannat (Paradies) Guest House. Dort finden sie Zuflucht vor den Traumata, die sie verfolgen. Es sind zugleich die Traumata Indiens der vergangenen Jahrzehnte. Roy erzählt anhand der Erlebnisse ihrer Figuren von diesen Tragödien. Passagen des Buches lesen sich wie Streitschriften. Immer wieder kommt aber auch die Lyrik und der beinahe kindliche Humor zum Vorschein – poetische Beschreibungen des mystischen Innenlebens der Natur, skurrile Vergleiche, schrullige Spitznamen. „Dies ist ein eindeutig experimentelles, stacheliges, gewagtes Buch“, sagt Roy.
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Arundhati Roy: Das Ministerium des äußersten Glücks. S.fischerverlag, Seiten, , Euro