Thüringer Allgemeine (Eisenach)
Als Briefträger
Sechs Wochen hat der Südthüringer Schriftsteller Landolf Scherzer Kuba erkundet. Er erlebte die Trauer um Fidel Castro, besucht Fischer und Landarbeiter und wohnt bei Großmutter Maria
Vor seiner Abreise schrieb Landolf Scherzer einen Leserbrief für die Zeitung: „Wen soll ich in Kuba grüßen?“Viele meldeten sich und vertrauten dem Schriftsteller Briefe an, die er persönlich überbringen sollte. Auch ein Scheck über 30 000
Euro für die Opfer des Hurrikans war dabei. Andere gaben ihm Dinge mit, die auf Kuba Mangelware sind. Gitarrensaiten zum Beispiel oder Kabelbinder, die Auspuffe von Autos halten sollten, Rezepte für das einzige vegetarische Restaurant. Und einer drückte ihm ein Keilkissen in die Hand, für Maikel, der Rückenprobleme hat.
Dann aber fällt Scherzer seine kleine Nikon-kamera ein, in der noch etwa 600 Aufnahmen gespeichert sind, die ihm zur Auffrischung der Eindrücke während des Schreibens dienen. Als er den Speicher öffnet, schauen wir in fröhliche, nachdenkliche und – traurige Gesichter.
Scherzer konnte nicht ahnen, dass er das Land im Ausnahmezustand erleben würde. Am 24. November vergangenen Jahres landete er in Havanna, und nur einen Tag später starb Fidel Castro.
„Ich wohnte bei Großmutter Maria, einer 86-jährigen religiösen und sehr stolzen Frau“, erzählt er. „Von ihrem Balkon blickte man auf den größten Friedhof des Landes. Bis zum Abend war ich dort zwischen den Gräbern unterwegs, und als ich am nächsten Morgen aufstand, sah ich Maria weinen. Fidel sei tot, sagte sie und fiel mir schluchzend in die Arme.“
Trauer und Betroffenheit erlebt der Reporter überall in der Stadt. Doch ist es keine lähmende, sondern eine sehr lebendige Trauer. Ein Liebespaar hält sich bei den Händen, ein jeder hat das Wort „Fidel“auf der Stirn. Ein Sänger brüllt, um seine Tränen zu verbergen. Ein Musiker erzählt, dass er gerade ein lukratives Konzertangebot habe, nun aber neun Tage nicht spielen werde, so lange wie die Staatsflaggen auf Halbmast hängen. Und ein alter Fischer rät dem anteilnehmenden Deutschen: Wenn er trauern wolle, möge er in die Berge gehen, dort sei er Fidel Castro näher.
Trauern? Noch als er sich in die Schlange am Platz der Revolution einreiht, um zusammen mit Hunderttausenden Kubanern dem Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen, fühlt Scherzer einen Zwiespalt. Gibt es den Revolutionär reinen Herzens? War Fidel Castro noch ehrlich, als er die Errungenschaften der Revolution verteidigt hat? War er als Staatsmann noch gerecht oder schon selbstgerecht? Das habe er dort die Leute gefragt.
Einer gab ihm zur Antwort, in Kuba sei niemand verhungert. Ein anderer meinte, Che, Fidel und ihre engsten Mitkämpfer seien sehr jung gewesen, als sie den verhassten Diktator stürzten. Wegen ihrer Jugend verzeihe er ihnen so manchen Fehler. Er sei auch stolz, die Wirtschaftsblockade überlebt zu haben.
Scherzer war vor der Wende in Angola, Mosambik und mehrmals in der Sowjetunion gewesen. Nach dem Fall der Mauer wanderte er die ehemalige deutsch-deutsche Grenze ab, erkundete Osteuropa zu Fuß, war in China und zuletzt in Griechenland unterwegs.
Und warum Kuba erst jetzt? „Ich habe in meinen Büchern das Ende der DDR beschrieben. Und in Kuba, wo es Bildung und gleiche Chancen für alle gegeben hat, siehst du jetzt, wie sich die Gesellschaft spaltet.“
Scherzer besucht verfallende Häfen und freie Bauernmärkte, unterhält sich mit Pizza-bäckern, Bloggern und einem Ex-fußballnationaltrainer. Er trifft einen Eichsfelder, der zurzeit das Capitol restauriert und zum Papstbesuch die Kathedrale von Havanna vom Schmutz der letzten zwei Jahrhunderte befreit hat.
Sein Briefträger-job macht es dem 76Jährigen nicht immer leicht. Nach dem Dorf La Guinea muss er lange suchen. Dort sitzt ein Kaffeebauer glücklich im Schein einer Glühbirne. Ein Erfurter hat Geld für die Solaranlage gespendet. Das Dorf ist noch nicht ans Elektrizitätsnetz angeschlossen. „Fidel y Maria para siempre“, wünscht Großmutter Maria zum Abschied: Fidel und die heilige Maria sollen ihn immer begleiten. Da wusste Scherzer, dass er angekommen ist.