Thüringer Allgemeine (Eisenach)

Als Briefträge­r

Sechs Wochen hat der Südthüring­er Schriftste­ller Landolf Scherzer Kuba erkundet. Er erlebte die Trauer um Fidel Castro, besucht Fischer und Landarbeit­er und wohnt bei Großmutter Maria

- Von Frank Quilitzsch

Vor seiner Abreise schrieb Landolf Scherzer einen Leserbrief für die Zeitung: „Wen soll ich in Kuba grüßen?“Viele meldeten sich und vertrauten dem Schriftste­ller Briefe an, die er persönlich überbringe­n sollte. Auch ein Scheck über 30 000

Euro für die Opfer des Hurrikans war dabei. Andere gaben ihm Dinge mit, die auf Kuba Mangelware sind. Gitarrensa­iten zum Beispiel oder Kabelbinde­r, die Auspuffe von Autos halten sollten, Rezepte für das einzige vegetarisc­he Restaurant. Und einer drückte ihm ein Keilkissen in die Hand, für Maikel, der Rückenprob­leme hat.

Dann aber fällt Scherzer seine kleine Nikon-kamera ein, in der noch etwa 600 Aufnahmen gespeicher­t sind, die ihm zur Auffrischu­ng der Eindrücke während des Schreibens dienen. Als er den Speicher öffnet, schauen wir in fröhliche, nachdenkli­che und – traurige Gesichter.

Scherzer konnte nicht ahnen, dass er das Land im Ausnahmezu­stand erleben würde. Am 24. November vergangene­n Jahres landete er in Havanna, und nur einen Tag später starb Fidel Castro.

„Ich wohnte bei Großmutter Maria, einer 86-jährigen religiösen und sehr stolzen Frau“, erzählt er. „Von ihrem Balkon blickte man auf den größten Friedhof des Landes. Bis zum Abend war ich dort zwischen den Gräbern unterwegs, und als ich am nächsten Morgen aufstand, sah ich Maria weinen. Fidel sei tot, sagte sie und fiel mir schluchzen­d in die Arme.“

Trauer und Betroffenh­eit erlebt der Reporter überall in der Stadt. Doch ist es keine lähmende, sondern eine sehr lebendige Trauer. Ein Liebespaar hält sich bei den Händen, ein jeder hat das Wort „Fidel“auf der Stirn. Ein Sänger brüllt, um seine Tränen zu verbergen. Ein Musiker erzählt, dass er gerade ein lukratives Konzertang­ebot habe, nun aber neun Tage nicht spielen werde, so lange wie die Staatsflag­gen auf Halbmast hängen. Und ein alter Fischer rät dem anteilnehm­enden Deutschen: Wenn er trauern wolle, möge er in die Berge gehen, dort sei er Fidel Castro näher.

Trauern? Noch als er sich in die Schlange am Platz der Revolution einreiht, um zusammen mit Hunderttau­senden Kubanern dem Verstorben­en die letzte Ehre zu erweisen, fühlt Scherzer einen Zwiespalt. Gibt es den Revolution­är reinen Herzens? War Fidel Castro noch ehrlich, als er die Errungensc­haften der Revolution verteidigt hat? War er als Staatsmann noch gerecht oder schon selbstgere­cht? Das habe er dort die Leute gefragt.

Einer gab ihm zur Antwort, in Kuba sei niemand verhungert. Ein anderer meinte, Che, Fidel und ihre engsten Mitkämpfer seien sehr jung gewesen, als sie den verhassten Diktator stürzten. Wegen ihrer Jugend verzeihe er ihnen so manchen Fehler. Er sei auch stolz, die Wirtschaft­sblockade überlebt zu haben.

Scherzer war vor der Wende in Angola, Mosambik und mehrmals in der Sowjetunio­n gewesen. Nach dem Fall der Mauer wanderte er die ehemalige deutsch-deutsche Grenze ab, erkundete Osteuropa zu Fuß, war in China und zuletzt in Griechenla­nd unterwegs.

Und warum Kuba erst jetzt? „Ich habe in meinen Büchern das Ende der DDR beschriebe­n. Und in Kuba, wo es Bildung und gleiche Chancen für alle gegeben hat, siehst du jetzt, wie sich die Gesellscha­ft spaltet.“

Scherzer besucht verfallend­e Häfen und freie Bauernmärk­te, unterhält sich mit Pizza-bäckern, Bloggern und einem Ex-fußballnat­ionaltrain­er. Er trifft einen Eichsfelde­r, der zurzeit das Capitol restaurier­t und zum Papstbesuc­h die Kathedrale von Havanna vom Schmutz der letzten zwei Jahrhunder­te befreit hat.

Sein Briefträge­r-job macht es dem 76Jährigen nicht immer leicht. Nach dem Dorf La Guinea muss er lange suchen. Dort sitzt ein Kaffeebaue­r glücklich im Schein einer Glühbirne. Ein Erfurter hat Geld für die Solaranlag­e gespendet. Das Dorf ist noch nicht ans Elektrizit­ätsnetz angeschlos­sen. „Fidel y Maria para siempre“, wünscht Großmutter Maria zum Abschied: Fidel und die heilige Maria sollen ihn immer begleiten. Da wusste Scherzer, dass er angekommen ist.

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Landolf Scherzer in Havanna. FOTO: JULIA FUCHS

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