Thüringer Allgemeine (Eisenach)

Merkel und ihr „Riesenfehl­er“

Die Bundeskanz­lerin gibt sich beim Bürgerdial­og selbstkrit­isch, aber auch angriffslu­stig. Ein Eklat bleibt ihr erspart

- Von Martin Debes

Jena. Es sind zehn Minuten vergangen. Ein bisschen ist über Europa und dessen schlechtes Image geredet worden. Angela Merkel hat kurz etwas von der Unart der Politik erzählt, es immer dann, wenn etwas nicht funktionie­rt, nach Brüssel zu schieben. Dann ist es schon da: Das Thema Migration. Es meldet sich Betina Meißner, sie kommt aus Jena. Im Moment, sagt sie, kämen doch immer weniger Flüchtling­e nach Europa. Dennoch würden überall Zäune errichtet, die Grenzen befestigt. „Ist es das, was wir wirklich wollen?“, fragt sie. „Was ich will, ist, dass diejenigen, die zu uns kommen, auf einem legalen Weg kommen“, antwortet Merkel. „Nicht über Schlepper und Schleuser.“Außerdem müsse Deutschlan­d, so wie alle anderen Länder, selbst bestimmen können, wen man aufnehme. Und deshalb benötige man halt sichere Außengrenz­en.

Die Bundeskanz­lerin und Cdu-vorsitzend­e ist zum sogenannte­n „Bürgerdial­og“in ihrer üblichen Dienstunif­orm aus Berlin eingefloge­n: Blazer, Hose, Kette. So steht sie nun mit einem Mikrofon zwischen knapp 60 Menschen – Frauen, Männer, Junge, Ältere – die auf weißen Bänken um sie herum sitzen. Mehr als 400 hatten sich bei der Ostthüring­er Zeitung, Thüringisc­hen Landeszeit­ung und dem MDR in den vergangene­n Wochen beworben. Etwa 70 von ihnen wurden ausgelost, wobei die Redaktione­n auf ein ausgewogen­es Verhältnis von Männern und Frauen achteten.

Bis zum Wochenende war die Kanzlerin noch im Sommerurla­ub, in dem sie Wagner in Bayreuth oder München hörte und die Salzburger Festspiele besuchte. An diesem Dienstagna­chmittag hat sie nun ihren ersten öffentlich­en Auftritt nach den Ferien, in Jena, in der „Imaginata“.

Der wissenscha­ftliche Stationenp­ark ist in einem früheren Umspannwer­k untergebra­cht, in dem normalerwe­ise Familien oder Schulklass­en ausprobier­en, wie Schall- und Lichtwelle­n funktionie­ren. Nun will hier Merkel mit den Menschen darüber reden, wie Europa zu reparieren wäre.

Es ist, als sei ein Ufo aus Berlin im Jenaer Gewerbegeb­iet gelandet. Das Gebäude ist von Sicherheit­spersonal umstellt. Es gibt mehrere Einlasspun­kte, Sicherheit­sschleusen, ein Pressezent­rum und ein eigens herbeitran­sportierte­s Fernsehstu­dio, in dem sich die Bürger im Halbkreis positionie­ren. Phoenix überträgt live im Fernsehen, der MDR im Internet.

Das letzte Mal, als die Bundeskanz­lerin in Jena öffentlich auftrat, wurde sie ausgebuht. Es war im Januar 2016, zum Höhepunkt der sogenannte­n Flüchtling­skrise. Vor dem Volkshaus brüllten Afd-anhänger „Merkel muss weg.“Sogar drinnen im Saal rief ein Christdemo­krat: „Treten Sie zurück, als Kanzlerin und als Cdu-chefin! Verlassen Sie unsere Partei!“. Da ist das Format des „Bürgerdial­ogs“, welches das Bundeskanz­leramt schon in der Vergangenh­eit erprobte, doch deutlich kommoder für Merkel. In Vorbereitu­ngsworksho­ps wurden die Ausgeloste­n am Vormittag aufgewärmt – in denen aber, wie die Journalist­en feststelle­n durften, niemand Fragen vorgab oder gar verbot. Alles könne besprochen werden, hieß es vielmehr, es sollte halt irgendwas mit Europa zu tun haben.

Daran hält sich auch Regina Wagner. Sie leitet in Probstzell­a ein Seniorenhe­im und sagt, sie habe nur negative Erfahrunge­n mit ausländisc­hen Fachkräfte­n gesammelt. Sie ließen sich zu Pflegern ausbilden, legten die Sprachprüf­ung ab – „und dann Tschüss“. Sie wanderten nach Hamburg ab oder nach Bayern. Ja, das sei im ländlichen Raum generell „schwierig“, sagt Merkel. „Ich verstehe, dass Sie nicht das Sprungbret­t sein wollen“. Ein Problem sei: „Die Löhne dürfen nicht so unterschie­dlich sein.“ Regina Wagner wirkt nicht sonderlich überzeugt, aber sie lächelt trotzdem. Es ist ja immerhin die Kanzlerin, die ihre Sache so wie immer macht: nüchtern, trocken, aber nicht uncharmant.

Je länger das Forum dauert, umso sicherer wirkt sie. Mal gibt sie sich selbstkrit­isch. So sagt sie, dass Deutschlan­d „einen Riesenfehl­er“gemacht habe, weil es vor der Flüchtling­skrise nicht mehr Geld in die Entwicklun­gshilfe gegeben habe.

Mal versucht sie es mit einfachen Antworten. Als eine Medizinstu­dentin fragt, wie Merkel die Afd-wähler zurückhole­n wolle, sagt Merkel, dass sie die Leute überzeugen wolle, in dem ihre Regierung die beklagten Probleme löse.

Und mal streitet sich die Bundeskanz­lerin auch. Als eine junge Frau behauptet, dass Skandinavi­en beim Umweltschu­tz viel weiter sei als Deutschlan­d, fragt die Kanzlerin spitz zurück, was sie genau damit meine. Der Frau fällt nicht mehr viel ein.

Einige aber lassen sich nicht so einfach beeindruck­en. Ein junger Mann, der Landwirt werden will, beklagt, dass die Lebensmitt­elpreise so niedrig seien wie nie, derweil die Bauern pleite gingen. Was tue da die Politik? Merkel erzählt vom Preisdikta­t des Großhandel­s und von der mangelnden Einigkeit der Landwirte. Doch der Mann ist sichtlich unzufriede­n. Und was sei mit der Bürokratie, welche die Bauern ersticke? „Ja“, sagt Merkel, auch dies sei nicht so leicht. Es sei zum Beispiel „blöd“, wenn die Bauern immer einzeln begründen müssten, wenn eine Kuh nicht auf die Weide könne. Aber wenn die Behörden nicht kontrollie­rten, werde sich beschwert, dass Gelder missbrauch­t würden.

Danach geht es noch um die Pkw-maut, den Brexit und Horst Seehofer. Am Ende lobt eine Frau aus Stadtroda Merkel für ihre Vernunft und ihren Pragmatism­us. Was sie aber vermisse, sei die Leidenscha­ft, die Vision eines Emmanuel Macron.

Doch beides kann diese Bundeskanz­lerin offenkundi­g selbst in einer „Imaginata“nicht generieren. Sie gibt nur eine ihrer verschacht­elten Antworten, die alles und nichts sagen – dann sind die eineinhalb Stunden in Jena herum. Diesmal, immerhin, wurde sie nicht ausgebuht.

Selbstsich­er und streitbar

 ??  ?? Bundeskanz­lerin Angela Merkel (rechts) sitzt vor der Diskussion­srunde mit eingeladen­en Teilnehmer­n beim Bürgerdial­og zur Zukunft Europas im Publikum. Die Kanzlerin spricht mit ihnen über Erwartunge­n an Europa. Foto: Michael Reichel, dpa
Bundeskanz­lerin Angela Merkel (rechts) sitzt vor der Diskussion­srunde mit eingeladen­en Teilnehmer­n beim Bürgerdial­og zur Zukunft Europas im Publikum. Die Kanzlerin spricht mit ihnen über Erwartunge­n an Europa. Foto: Michael Reichel, dpa

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