Thüringer Allgemeine (Eisenach)
Der Schatten des Ruhms
Da stand er, das magenta-farbene Telekom-trikot auf dem Leib und unterhielt sich lässig mit Andreas Klöden. Und ich, 21 Jahre alt, der gerade seine ersten Erfahrungen als Journalist sammelte, sollte ihn, den Helden, unterbrechen, kurz interviewen am Rande des Abschiedsrennens von Jens Heppner 2004 in Jena.
Jan Ullrich. Ein deutsches Sportidol, das eine ganze Nation zum Radfahren animiert hatte. Der Jubelstürme auslöste, als er 1997 die Bergankunft in Arcalis (Andorra) gewann, den Franzosen Richard Virenque zuvor stehen ließ wie einen Schuljungen, der zum ersten Mal im Sattel sitzt, und sich das Gelbe Trikot bei der Frankreich-rundfahrt sicherte. Das „Tourfieber“ließ viele Deutsche und mich auch in den Jahren nach Ullrichs einzigem Gesamtsieg nicht mehr los.
2004, da strahlte der „Ulle“noch, da konnte sich kaum einer dem Charme des komplettesten deutschen Radfahrers aller Zeiten entziehen. Auch ein jungen Journalist nicht, der fast in Ehrfurcht erstarrt wäre.
14 Jahre später ist aller Glanz verflogen. Ullrich – ein vermeintlicher Straftäter, der eine Prostituierte körperlich angegriffen haben soll, der unbefugt aufs Grundstück von Nachbar Til Schweiger auf Mallorca eindrang und dort rumpöbelte, der mutmaßlich alkoholund drogen-abhängig ist, der in eine Psychiatrie zwangseingewiesen wurde und jetzt wohl in einer Klinik eine Entziehung macht. Was ist nur passiert mit Jan Ullrich? Den sympathischen Radsportler, der für seine Fans immer ein Lächeln hatte und mit seinen Gegnern wie Lance Armstrong sehr ehrenvoll umging.
Der heute 44-Jährige ist so tief abgestürzt wie kaum ein Sportstar vor ihm. Da kann nicht einmal Boris Becker mithalten. Natürlich ist sein heutiges Verhalten nicht in Ordnung und Ullrich muss die Konsequenzen für sein Handeln tragen. Bei der Frage nach dem „Warum“darf aber nicht vergessen werden, dass auch keiner so fallen gelassen wurde wie der Radstar.
Heute ein Held, morgen der Betrüger der Nation. Ullrich hat alles für den Erfolg getan. Und er ist für ein Land gefahren, in dem der Zweite der erste Verlierer ist. Deswegen und seines Ehrgeizes geschuldet, ist er weit über das Ziel hinaus geradelt, hat mit dem Doping beim spanischen Gynäkologen Eufemiano Fuentes, das später öffentlich wurde, sein eigenes Schicksal besiegelt.
Anders als viele seiner ehemaligen Teamkollegen gab sich Ullrich nie als reuiger Sünder. Für ihn war Doping kein Betrug, sondern eine Notwendigkeit, um „Chancengleichheit“herzustellen. Eine probate Ausrede einer ganzen Radsport-generation, die, auch vom öffentlichen Druck getrieben, immer schneller sein wollte, teilweise mafiöse Strukturen entwickelte und ihrem Sport letztlich einen Bärendienst erwies. Vor allem diese Sichtweise führte dazu, dass der ehemalige Star Ullrich zur unerwünschten Person wurde. Wie muss das sein, erst von allen angehimmelt und dann wie ein Aussätziger behandelt zu werden?
Keine Frage, das hat bei Jan Ullrich Spuren hinterlassen. Spuren, die nach der Karriere auch die Liebe zu seiner Frau und den drei gemeinsamen Kindern nicht beseitigen konnten. Als die Ehe zerbrach, ist scheinbar auch in Ullrich etwas zerbrochen.
Mitleid ist aktuell mehr angebracht als Hohn und Spott. Ullrich muss wieder auf die Beine kommen und er hat wie jeder andere auch, der Fehler gemacht hat, eine zweite Chance verdient. Es ist für Sportler wie für Künstler nie leicht, nach dem Karriereende auf einmal keinen Applaus mehr zu bekommen, nichts Besonderes mehr zu sein, nur ein einfacher Mensch.
Diego Maradona, George Best, Paul Gascoigne, Tiger Woods, Oscar Pistorius, O.J. Simpson – keine Liste der Ruhmeshalle des Sports, sondern eine von verkrachten Existenzen. Der Ruhm hat seine Schattenseiten und die sind an manchen Stellen sehr, sehr dunkel. Es ist für viele unerklärlich, warum Leute, die finanziell ausgesorgt haben, die eine große Anerkennung genießen, so abstürzen können. Aber Geld allein macht eben auch nicht glücklich und das Leben in Scheinwelten, umgeben von geldgierigen Schmeichlern, hat schon so manchem Star das Hirn vernebelt. Bei Sportlern kommen oft Schmerzmittel und dererlei hinzu, um den Strapazen des Körpers nach den oft übermenschlichen Anstrengungen Linderung zu verschaffen.
Weniger Euphorie im Erfolgsfall, mehr Empathie an Tagen, an denen es nicht so läuft: Das wäre sicherlich hilfreich, um solche Fälle wie die eines Jan Ullrichs in Zukunft zu vermeiden. Und Profisportler sollten frühzeitig auf die Zusammenarbeit mit einem Psychologen oder Mentaltrainer setzen, der sie erdet, der ihnen hilft, ein Leben ohne Sport und Applaus zu bestreiten. Das Leben nach dem Sportlerleben eben. Denn jeder auch noch so große Star ist am Ende nur eines – ein Mensch wie du und ich.