Thüringer Allgemeine (Eisenach)
Hektische Manöver am Abgrund
SPD will über die Zukunft des entlassenen Verfassungsschutzchefs Maaßen neu verhandeln
Berlin. Um kurz nach halb sechs stellt sich Andrea Nahles auf dem Würzburger Marktplatz den Kameras. Sie scherzt und lässt ihr markantes, dröhnendes Lachen hören. Das klingt wie eine Befreiung. Auf der Spdvorsitzenden lastete in den vergangenen Stunden und Tagen ein fast übermenschlicher Druck. Aus dem ganzen Land wurde die 48-Jährige für den Kompromiss in der Causa Maaßen geschmäht und verwünscht. Vor allem aus den eigenen Reihen. Nahles hat viel erlebt in ihrer langen Laufbahn. Sie war am Sturz der Spd-chefs Rudolf Scharping und Franz Müntefering maßgeblich beteiligt. Nun ging es plötzlich um ihre eigene Haut.
Bis Freitagnachmittag sah es so aus, als könnte der Proteststurm in der SPD Nahles von der Spitze fegen und die Koalition gleich mit in Schutt und Asche legen. Doch sie wählte die Flucht nach vorn. Sie schrieb einen Brief an Kanzlerin Merkel (CDU) und Innenminister Horst Seehofer (CSU), telefonierte mit beiden. Die Beförderung des geschassten Verfassungsschutzchefs Hans-georg Maaßen, der nach Chemnitz mit unbelegten „Fake News“-vorwürfen rund um die „Hetzjagden“in der Stadt massive Kritik auf sich gezogen hatte, soll gestoppt werden, die Koalitionsspitzen wollen nachverhandeln.
Die Entscheidung vom Dienstagabend, Maaßen mit einem Gehaltsaufschlag von 2500 Euro im Monat zum Staatssekretär bei Seehofer zu machen, stoße auf breites Unverständnis in der Bevölkerung und sei nicht vermittelbar: „Wir haben nicht Vertrauen geschaffen, sondern Vertrauen verloren. Wir haben uns alle drei geirrt“, wiederholt Nahles in Würzburg, was sie an Merkel und Seehofer per Mail verschickt hat. Union und SPD hätten die Regierung gebildet, um das Leben der Menschen zu verbessern und verloren gegangenes Vertrauen wiederherzustellen. Doch bei Maaßen ging das gewaltig schief: „Das sollte Anlass für uns gemeinsam sein, innezuhalten und die Verabredung zu überdenken“, so Nahles.
Aber wie würde Seehofer reagieren, der Nahles unter der Woche mit dem Schachzug, den von ihm hoch geschätzten Maaßen zum Staatssekretär zu machen und dafür einen Spdbeamten zu opfern, übertölpelt hatte? Der CSU-CHEF reagierte umgehend. Er schließe neue Beratungen über die Causa Maaßen nicht aus. „Ich denke, eine erneute Beratung macht dann Sinn, wenn eine konsensuale Lösung möglich ist. Darüber wird jetzt nachgedacht.“
Auch die Kanzlerin zeigte prompt Bereitschaft, die delikate Sache noch einmal anzupacken. „Die Bundeskanzlerin findet es richtig und angebracht, die anstehenden Fragen erneut zu bewerten und eine gemeinsame tragfähige Lösung zu finden“, teilte Regierungssprecher Steffen Seibert mit. In den Wahlkreisen hörten etliche Abgeordnete von CDU und CSU das Gleiche wie ihre Spd-kollegen: Ihr seid doch von allen guten Geistern verlassen! Das hilft nur der AFD! Nahles machte deutlich, dass die SPD die Arbeit der großen Koalition fortsetzen wolle. Stündlich wuchs der Druck auf sie, ihre Entscheidung zu revidieren. Am späten Donnerstagabend war die engere Parteiführung im Willy-brandt-haus in Berlin-kreuzberg zusammengekommen. Bis tief in die Nacht überlegten Nahles, Vizekanzler Olaf Scholz, Mecklenburg-vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig und andere Granden, wie sie mit der verfahrenen Lage, in die die eigene Parteivorsitzende die SPD bugsiert hatte, umgehen sollten. Scholz soll die Parole „Augen zu und durch!“ausgegeben haben. Auch Bundesumweltministerin Svenja Schulze und Außenminister Heiko Maas äußerten sich so. Arbeitsminister Hubertus Heil zeigte in der „Bild“-zeitung sogar gewisses Verständnis für Innenminister Horst Seehofer (CSU), Maaßen als Staatssekretär für Cybersicherheit und die Bundespolizei ins Haus zu holen, denn jeder Minister habe das Recht, seine Leute auszusuchen.
Die Rebellen in der SPD beeindruckte das nicht. Die bayerische Spd-vorsitzende und Spitzenkandidatin für die Landtagswahl am 14. Oktober, Natascha Kohnen, hatte in einem Brief an Nahles die Spd-minister aufgefordert, die Beförderung Maaßens noch zu stoppen. Am Montag sollte darüber im 45-köpfigen Vorstand abgestimmt werden. Nahles wurde zunehmend unsicher, ob sie dort eine Mehrheit bekäme – zumal manche Groko-gegner wie Juso-chef Kevin Kühnert hoffen, die Partei zu einem Bruch der Koalition bewegen zu können. Bei einer Niederlage im Vorstand müsste Nahles zurücktreten. Kühnert hat die Entscheidung der Koalitionsspitzen zu Nachverhandlungen im Fall Maaßen begrüßt, die Latte für deren Ausgang aber hochgelegt: „Der öffentliche Unmut richtete sich nicht nur gegen eine mögliche Berufung von Herrn Maaßen als Staatssekretär, sondern generell gegen seine Weiterbeschäftigung in Diensten der Bundesregierung“, sagte der Wortführer der Groko-gegner unserer Redaktion.
Im Verlauf des Tages trudelte bei Nahles ein weiteres Schreiben ein, das die spektakuläre Kehrtwende einleitete. Die Führung des größten Landesverbands in Nordrhein-westfalen stellte sich hinter Kohnens Forderung und wollte dazu am Sonnabend einen Antrag beschließen. Die übergroße Mehrheit der Menschen im Land wolle weder, dass ein aus gutem Grund abberufener Spitzenbeamter mit einem hoch dotierten Staatssekretärsposten versorgt werde, „noch ist sie bereit, die rechtspopulistischen Eskapaden des amtierenden Bundesinnenministers weiter zu ertragen“. Merkel dürfe nicht länger dulden, dass der Bundesinnenminister „ein ganzes Land für die Landtagswahl in Bayern in Geiselhaft“nimmt.
Andrea Nahles wurde zunehmend unsicher