Thüringer Allgemeine (Eisenach)

Hektische Manöver am Abgrund

SPD will über die Zukunft des entlassene­n Verfassung­sschutzche­fs Maaßen neu verhandeln

- Von Tim Braune, Kerstin Münsterman­n und Philipp Neumann

Berlin. Um kurz nach halb sechs stellt sich Andrea Nahles auf dem Würzburger Marktplatz den Kameras. Sie scherzt und lässt ihr markantes, dröhnendes Lachen hören. Das klingt wie eine Befreiung. Auf der Spdvorsitz­enden lastete in den vergangene­n Stunden und Tagen ein fast übermensch­licher Druck. Aus dem ganzen Land wurde die 48-Jährige für den Kompromiss in der Causa Maaßen geschmäht und verwünscht. Vor allem aus den eigenen Reihen. Nahles hat viel erlebt in ihrer langen Laufbahn. Sie war am Sturz der Spd-chefs Rudolf Scharping und Franz Münteferin­g maßgeblich beteiligt. Nun ging es plötzlich um ihre eigene Haut.

Bis Freitagnac­hmittag sah es so aus, als könnte der Proteststu­rm in der SPD Nahles von der Spitze fegen und die Koalition gleich mit in Schutt und Asche legen. Doch sie wählte die Flucht nach vorn. Sie schrieb einen Brief an Kanzlerin Merkel (CDU) und Innenminis­ter Horst Seehofer (CSU), telefonier­te mit beiden. Die Beförderun­g des geschasste­n Verfassung­sschutzche­fs Hans-georg Maaßen, der nach Chemnitz mit unbelegten „Fake News“-vorwürfen rund um die „Hetzjagden“in der Stadt massive Kritik auf sich gezogen hatte, soll gestoppt werden, die Koalitions­spitzen wollen nachverhan­deln.

Die Entscheidu­ng vom Dienstagab­end, Maaßen mit einem Gehaltsauf­schlag von 2500 Euro im Monat zum Staatssekr­etär bei Seehofer zu machen, stoße auf breites Unverständ­nis in der Bevölkerun­g und sei nicht vermittelb­ar: „Wir haben nicht Vertrauen geschaffen, sondern Vertrauen verloren. Wir haben uns alle drei geirrt“, wiederholt Nahles in Würzburg, was sie an Merkel und Seehofer per Mail verschickt hat. Union und SPD hätten die Regierung gebildet, um das Leben der Menschen zu verbessern und verloren gegangenes Vertrauen wiederherz­ustellen. Doch bei Maaßen ging das gewaltig schief: „Das sollte Anlass für uns gemeinsam sein, innezuhalt­en und die Verabredun­g zu überdenken“, so Nahles.

Aber wie würde Seehofer reagieren, der Nahles unter der Woche mit dem Schachzug, den von ihm hoch geschätzte­n Maaßen zum Staatssekr­etär zu machen und dafür einen Spdbeamten zu opfern, übertölpel­t hatte? Der CSU-CHEF reagierte umgehend. Er schließe neue Beratungen über die Causa Maaßen nicht aus. „Ich denke, eine erneute Beratung macht dann Sinn, wenn eine konsensual­e Lösung möglich ist. Darüber wird jetzt nachgedach­t.“

Auch die Kanzlerin zeigte prompt Bereitscha­ft, die delikate Sache noch einmal anzupacken. „Die Bundeskanz­lerin findet es richtig und angebracht, die anstehende­n Fragen erneut zu bewerten und eine gemeinsame tragfähige Lösung zu finden“, teilte Regierungs­sprecher Steffen Seibert mit. In den Wahlkreise­n hörten etliche Abgeordnet­e von CDU und CSU das Gleiche wie ihre Spd-kollegen: Ihr seid doch von allen guten Geistern verlassen! Das hilft nur der AFD! Nahles machte deutlich, dass die SPD die Arbeit der großen Koalition fortsetzen wolle. Stündlich wuchs der Druck auf sie, ihre Entscheidu­ng zu revidieren. Am späten Donnerstag­abend war die engere Parteiführ­ung im Willy-brandt-haus in Berlin-kreuzberg zusammenge­kommen. Bis tief in die Nacht überlegten Nahles, Vizekanzle­r Olaf Scholz, Mecklenbur­g-vorpommern­s Ministerpr­äsidentin Manuela Schwesig und andere Granden, wie sie mit der verfahrene­n Lage, in die die eigene Parteivors­itzende die SPD bugsiert hatte, umgehen sollten. Scholz soll die Parole „Augen zu und durch!“ausgegeben haben. Auch Bundesumwe­ltminister­in Svenja Schulze und Außenminis­ter Heiko Maas äußerten sich so. Arbeitsmin­ister Hubertus Heil zeigte in der „Bild“-zeitung sogar gewisses Verständni­s für Innenminis­ter Horst Seehofer (CSU), Maaßen als Staatssekr­etär für Cybersiche­rheit und die Bundespoli­zei ins Haus zu holen, denn jeder Minister habe das Recht, seine Leute auszusuche­n.

Die Rebellen in der SPD beeindruck­te das nicht. Die bayerische Spd-vorsitzend­e und Spitzenkan­didatin für die Landtagswa­hl am 14. Oktober, Natascha Kohnen, hatte in einem Brief an Nahles die Spd-minister aufgeforde­rt, die Beförderun­g Maaßens noch zu stoppen. Am Montag sollte darüber im 45-köpfigen Vorstand abgestimmt werden. Nahles wurde zunehmend unsicher, ob sie dort eine Mehrheit bekäme – zumal manche Groko-gegner wie Juso-chef Kevin Kühnert hoffen, die Partei zu einem Bruch der Koalition bewegen zu können. Bei einer Niederlage im Vorstand müsste Nahles zurücktret­en. Kühnert hat die Entscheidu­ng der Koalitions­spitzen zu Nachverhan­dlungen im Fall Maaßen begrüßt, die Latte für deren Ausgang aber hochgelegt: „Der öffentlich­e Unmut richtete sich nicht nur gegen eine mögliche Berufung von Herrn Maaßen als Staatssekr­etär, sondern generell gegen seine Weiterbesc­häftigung in Diensten der Bundesregi­erung“, sagte der Wortführer der Groko-gegner unserer Redaktion.

Im Verlauf des Tages trudelte bei Nahles ein weiteres Schreiben ein, das die spektakulä­re Kehrtwende einleitete. Die Führung des größten Landesverb­ands in Nordrhein-westfalen stellte sich hinter Kohnens Forderung und wollte dazu am Sonnabend einen Antrag beschließe­n. Die übergroße Mehrheit der Menschen im Land wolle weder, dass ein aus gutem Grund abberufene­r Spitzenbea­mter mit einem hoch dotierten Staatssekr­etärsposte­n versorgt werde, „noch ist sie bereit, die rechtspopu­listischen Eskapaden des amtierende­n Bundesinne­nministers weiter zu ertragen“. Merkel dürfe nicht länger dulden, dass der Bundesinne­nminister „ein ganzes Land für die Landtagswa­hl in Bayern in Geiselhaft“nimmt.

Andrea Nahles wurde zunehmend unsicher

 ??  ?? Andrea Nahles begründet bei einem Besuch in Würzburg ihren Entschluss, den Fall Maaßen neu verhandeln zu wollen. Foto: Daniel Karmann
Andrea Nahles begründet bei einem Besuch in Würzburg ihren Entschluss, den Fall Maaßen neu verhandeln zu wollen. Foto: Daniel Karmann
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Kanzlerin Merkel und CSU-CHEF Seehofer in der Bundespres­sekonferen­z. Foto: dpa

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