Thüringer Allgemeine (Eisenach)

Keine Hilfe, nirgends

Erfurter Tanztheate­r zeigt Eigenprodu­ktion „Konsequenz­en“beim Internatio­nalen Festival in der Landeshaup­tstadt

- Von Henryk Goldberg

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Erfurt. Dieses Weiß. Wie unbeschrie­benes Papier, wie ein antiseptis­cher Reinraum. Wie ein Labor, in dem sie die Dinge unters Mikroskop legen werden. Und dann dieses Schreien. Aber mehr noch als die Frau schreien die Farben. Ganz in Rot ist die Frau, „Help!“rufen die Buchstaben auf bloßer Haut. Aber keine Hilfe, nirgends. Die Mikrofone der anderen bedrohen sie wie Speere, wie Waffen. Die Frau windet sich, flüchtet, vergebens. So beginnt dieser Abend, und es ist, als wolle er seinem Publikum mit dieser etwas schlichten Bildhaftig­keit ein Tor, einen Einstieg in seine frei assoziiere­nde Bildsprach­e ermögliche­n.

Das Erfurter Tanztheate­r zeigte seine Produktion „Konsequenz­en“jetzt in einer wiederum gut besuchten Vorstellun­g beim 6. Erfurter Festival des Tanztheate­rs – eine Unternehmu­ng, die als ein Wert an sich gelten darf, so wie auch die Existenz eines Tanztheate­rs mit künstleris­chkonzepti­onellem Anspruch in einer jenseits der Oper marginalis­ierten Theaterlan­dschaft dieser Landeshaup­tstadt.

Ester Ambrosino, die neben der sozio-kulturelle­n Arbeit einen künstleris­chen Anspruch mit Konsequenz vertritt, hat in „Konsequenz­en“diesen Anspruch gleichsam auf die Spitze getrieben, auch wenn „Spitze“kein Wort ist, das im Tanztheate­r sonderlich­en Rang genösse. Sie arbeiten hier eher mit einer Art aggressiv-dynamische­r Körperlich­keit, mit einem Bewegungsv­okabular, das seine Inspiratio­n eher in der Gegenwart sucht und seine Herkunft vom klassische­n Tanz doch nicht verleugnet. Dieser Abend nun ist in seiner weitgehend­en Abstraktio­n so etwas wie eine gewollte Überforder­ung des Publikums, er ist gleichsam ein Katalog der Probleme, von denen unsere Gesellscha­ft geprägt und bedroht ist.

Die Tänzer ziehen mit den weißen Hockern über die Bühne, den einen scheint das Holz bergender Schutz den anderen die Last, die sie mit sich schleppen. Eine Karawane der Suchenden, der Hoffenden, der Verzweifel­ten. Zwei Menschen mit Atemschutz­masken legen sich schließlic­h aufeinande­r, es ist nicht schön, es scheint irgendwie so schmutzig wie die Welt, in der sie verzweifel­t eine letzte Lust begehren – und wenn die Erde vollkommen verdreckt, dann sind halt die Masken für die Lunge die neuen Kondome. Das Orchester auf der sinkenden Titanic war wohl nur das Vorspiel.

Der Mann trägt eine Brille für die virtuelle Realität, und er zerrt die mit grauen Tüchern anonymisie­rten Anderen mit roten Bändern zu sich her. Nein, sie zerren ihn, sie bestimmen seinen Weg, seine Richtung mit den zum Netz gespannten Bändern, während die Videos an den schneeweiß­en Wänden fragmentie­rte Schnipsel der sozialen Medien zeigen. Dann ist der Mann allein, und fragend, suchend, ängstlich klingt sein „Hallo…?“durch den Raum.

Ein Mann, in schwarz gekleidet, schwarze Kothurn unter den Füßen, eine Mauer um den Kopf, füttert die Menschen mit Geldschein­en. Kann sein, es ist der, der beabsichti­gt, eine Mauer zu bauen.

Ein böses, sinnfreies Wettspiel macht Menschen zu Gewinnern oder Verlierern, ein akustische­s Signal nimmt sie aus dem Spiel. Eine junge Frau muss sinnlose Zungenbrec­her üben, dressiert von einer bösen Schwester Rachel. Schließlic­h tanzt die junge Frau sich frei, verzweifel­t und wütend, das ist die Hoffnung.

Und die Reise nach Jerusalem ist das Symbol dieser Zeit, die aussondert, wer ihr nicht genügt.

Ester Ambrosino hat, zu der treibenden Musik von Michael Krause, die die neun Tänzer nicht nur zu Paaren treibt, hier tatsächlic­h so etwas wie eine Überforder­ung inszeniert. Als wolle sie die Überforder­ung, der sich viele Menschen in dieser Gesellscha­ft ausgesetzt sehen, in eine künstleris­che Struktur übersetzen. Das ist für die Dramaturgi­e des Abends nicht ohne Gefährdung, er erzählt, was er zu erzählen hat, gleichsam in Kapiteln, deren frei assoziiere­nde Bildfindun­gen sich nicht immer und jedem erschließe­n mögen – der Berichters­tatter nimmt sich da nicht aus –, hier waltet gleichsam Opulenz statt Stringenz, was gelegentli­ch auch den Eindruck einer gewissen inhaltlich­en Beliebigke­it erweckt.

Wie gut diese internatio­nale Truppe und ihre Choreograf­in jedoch sind, das offenbart der Umstand, dass sie, jenseits der Erzählung, immer eine Spannung halten, dass die Bühne immer ein Konzentrat­ionsraum bleibt, dass immer eine, wenn auch in ihren Details vage bleibende Gefährdung als flirrende Atmosphäre unter der Szene liegt.

Kein Zweifel, dieses Theater tut dieser Stadt gut.

 ?? Foto: Lutz Edelhoff, Tanztheate­r Erfurt e.v. ?? Szene aus dem Erfurter Tanzstück „Konsequenz­en“von Ester Ambrosino.
Foto: Lutz Edelhoff, Tanztheate­r Erfurt e.v. Szene aus dem Erfurter Tanzstück „Konsequenz­en“von Ester Ambrosino.

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