Thüringer Allgemeine (Eisenach)
Keine Hilfe, nirgends
Erfurter Tanztheater zeigt Eigenproduktion „Konsequenzen“beim Internationalen Festival in der Landeshauptstadt
TCKU
Erfurt. Dieses Weiß. Wie unbeschriebenes Papier, wie ein antiseptischer Reinraum. Wie ein Labor, in dem sie die Dinge unters Mikroskop legen werden. Und dann dieses Schreien. Aber mehr noch als die Frau schreien die Farben. Ganz in Rot ist die Frau, „Help!“rufen die Buchstaben auf bloßer Haut. Aber keine Hilfe, nirgends. Die Mikrofone der anderen bedrohen sie wie Speere, wie Waffen. Die Frau windet sich, flüchtet, vergebens. So beginnt dieser Abend, und es ist, als wolle er seinem Publikum mit dieser etwas schlichten Bildhaftigkeit ein Tor, einen Einstieg in seine frei assoziierende Bildsprache ermöglichen.
Das Erfurter Tanztheater zeigte seine Produktion „Konsequenzen“jetzt in einer wiederum gut besuchten Vorstellung beim 6. Erfurter Festival des Tanztheaters – eine Unternehmung, die als ein Wert an sich gelten darf, so wie auch die Existenz eines Tanztheaters mit künstlerischkonzeptionellem Anspruch in einer jenseits der Oper marginalisierten Theaterlandschaft dieser Landeshauptstadt.
Ester Ambrosino, die neben der sozio-kulturellen Arbeit einen künstlerischen Anspruch mit Konsequenz vertritt, hat in „Konsequenzen“diesen Anspruch gleichsam auf die Spitze getrieben, auch wenn „Spitze“kein Wort ist, das im Tanztheater sonderlichen Rang genösse. Sie arbeiten hier eher mit einer Art aggressiv-dynamischer Körperlichkeit, mit einem Bewegungsvokabular, das seine Inspiration eher in der Gegenwart sucht und seine Herkunft vom klassischen Tanz doch nicht verleugnet. Dieser Abend nun ist in seiner weitgehenden Abstraktion so etwas wie eine gewollte Überforderung des Publikums, er ist gleichsam ein Katalog der Probleme, von denen unsere Gesellschaft geprägt und bedroht ist.
Die Tänzer ziehen mit den weißen Hockern über die Bühne, den einen scheint das Holz bergender Schutz den anderen die Last, die sie mit sich schleppen. Eine Karawane der Suchenden, der Hoffenden, der Verzweifelten. Zwei Menschen mit Atemschutzmasken legen sich schließlich aufeinander, es ist nicht schön, es scheint irgendwie so schmutzig wie die Welt, in der sie verzweifelt eine letzte Lust begehren – und wenn die Erde vollkommen verdreckt, dann sind halt die Masken für die Lunge die neuen Kondome. Das Orchester auf der sinkenden Titanic war wohl nur das Vorspiel.
Der Mann trägt eine Brille für die virtuelle Realität, und er zerrt die mit grauen Tüchern anonymisierten Anderen mit roten Bändern zu sich her. Nein, sie zerren ihn, sie bestimmen seinen Weg, seine Richtung mit den zum Netz gespannten Bändern, während die Videos an den schneeweißen Wänden fragmentierte Schnipsel der sozialen Medien zeigen. Dann ist der Mann allein, und fragend, suchend, ängstlich klingt sein „Hallo…?“durch den Raum.
Ein Mann, in schwarz gekleidet, schwarze Kothurn unter den Füßen, eine Mauer um den Kopf, füttert die Menschen mit Geldscheinen. Kann sein, es ist der, der beabsichtigt, eine Mauer zu bauen.
Ein böses, sinnfreies Wettspiel macht Menschen zu Gewinnern oder Verlierern, ein akustisches Signal nimmt sie aus dem Spiel. Eine junge Frau muss sinnlose Zungenbrecher üben, dressiert von einer bösen Schwester Rachel. Schließlich tanzt die junge Frau sich frei, verzweifelt und wütend, das ist die Hoffnung.
Und die Reise nach Jerusalem ist das Symbol dieser Zeit, die aussondert, wer ihr nicht genügt.
Ester Ambrosino hat, zu der treibenden Musik von Michael Krause, die die neun Tänzer nicht nur zu Paaren treibt, hier tatsächlich so etwas wie eine Überforderung inszeniert. Als wolle sie die Überforderung, der sich viele Menschen in dieser Gesellschaft ausgesetzt sehen, in eine künstlerische Struktur übersetzen. Das ist für die Dramaturgie des Abends nicht ohne Gefährdung, er erzählt, was er zu erzählen hat, gleichsam in Kapiteln, deren frei assoziierende Bildfindungen sich nicht immer und jedem erschließen mögen – der Berichterstatter nimmt sich da nicht aus –, hier waltet gleichsam Opulenz statt Stringenz, was gelegentlich auch den Eindruck einer gewissen inhaltlichen Beliebigkeit erweckt.
Wie gut diese internationale Truppe und ihre Choreografin jedoch sind, das offenbart der Umstand, dass sie, jenseits der Erzählung, immer eine Spannung halten, dass die Bühne immer ein Konzentrationsraum bleibt, dass immer eine, wenn auch in ihren Details vage bleibende Gefährdung als flirrende Atmosphäre unter der Szene liegt.
Kein Zweifel, dieses Theater tut dieser Stadt gut.