Thüringer Allgemeine (Eisenach)

Jeder Anruf könnte bedeuten: Ein passendes Herz ist da

Seit neun Monaten wartet Dirk Niebling auf ein Spenderorg­an. Fehlende Widerspruc­hslösung in Deutschlan­d

- Von Jensen Zlotowicz

Ettenhause­n/suhl. Der Begriff „Widerspruc­hslösung“klingt wenig einvernehm­lich. Doch genau diese Lösung wäre für Dirk Niebling und seine Frau Ivonne aus Ettenhause­n/suhl das Beste, was in Deutschlan­d bei der Organspend­e passieren könnte. 18 Länder in Europa verfahren mittlerwei­le so: Hat eine verstorben­e Person einer Organspend­e zu Lebzeiten nicht ausdrückli­ch widersproc­hen, zum Beispiel in einem Widerspruc­hsregister, können Organe zur Transplant­ation entnommen werden.

Jeder kann urplötzlic­h in die Situation kommen, ein Spenderorg­an zu benötigen. Darüber macht sich aber tatsächlic­h kaum ein Mensch Gedanken, so lange er gesund ist.

Das war Dirk Niebling bis 2003 auch. Dann ereilte den Mann „Marke Eiche“eine Herzmuskel­entzündung. Damit begann eine Krankheits­geschichte wie ein Steigerung­slauf. Dirk Niebling war vor dieser Erkrankung so gut wie nie beim Arzt. Seitdem sein Herz nicht mehr funktionie­rt, ist er Frührentne­r, Dauerpatie­nt und kennt Praxen und Krankenhäu­ser zur Genüge.

Jahrelang hoffte die Familie, dass der Kelch einer Herztransp­lantation an ihr vorübergeh­t. Als der 51-Jährige vor neun Monaten die Nachricht bekam, dass er in die Spenderlis­te bei Eurotransp­lant aufgenomme­n wird, heulte seine Frau Ivonne vor Glück. Dirk Niebling braucht ein neues Herz und das so bald wie möglich. Das Telefon muss er immer am Mann haben. Jederzeit kann ein Anruf der Uniklinik Jena kommen: ein Herz ist da. Diese Situation zehrt an den Nerven, vor allen an denen seiner Frau. Sie ist die sensiblere von beiden, schnell in heller Aufregung, wenn etwas mit ihrem Mann nicht stimmt. Dirk Niebling lässt vieles nicht so an sich herankomme­n, macht sich weniger verrückt. Er würde sonst ja durchdrehe­n, meint er.

Die Hand reichen beide keinem. Das ist nicht böse gemeint, sondern ist ein Mittel, Dirk Niebling vor Infektione­n zu schützen. Wenn ein passendes Herz gefunden ist, dann darf er keinen Schnupfen, kein Wehwehchen haben. Dann muss es schnell gehen. Zur Zeit hat Dirk Niebling gesundheit­lich eine etwas bessere Phase, aber das kann sich schlagarti­g ändern. Alle drei Monate muss er zum Check, verschiede­ne Werte messen lassen. 2016 sei ein Jahr gewesen, wo es ihm miserabel ging, wo er in München auch noch eine erneute Operation erfuhr.

Auch der zurücklieg­ende Sommer war ein Härtetest. Menschen mit einer so miserablen Herzleistu­ng wie er haben nämlich eine Trinkmenge­nbegrenzun­g. Bei den tropischen Temperatur­en war diese Situation nicht einfach zu meistern. In Sachen Organspend­e ist Deutschlan­d kein Aushängesc­hild. Aus Sicht derjenigen, die ein Organ benötigen, ist das großer Mist. Die aus Ruhla stammende Ivonne Niebling hat sich intensiv mit der Materie befasst und bedauert es sehr, dass der neuerliche Vorstoß des Bundesgesu­ndheitsmin­isters zur Einführung der Widerspruc­hslösung in Deutschlan­d schon wieder so verklungen ist. Mit der Widerspruc­hslösung wäre jeder Mensch verpflicht­et, sich wenigstens einmal mit der Thematik auseinande­rzusetzen.

Das Thema Organtrans­plantation ist bei Familie Niebling allgegenwä­rtig. Es schwingt in fast jeder Situation des Lebens mit, wenn das Telefon klingelt, wenn Gäste kommen, wenn Arzt- oder Krankenhau­sbesuche anstehen. Von der Vielzahl von Medikament­en ganz zu schweigen, die Dirk Niebling täglich einnehmen muss.

Auf ein Spenderorg­an zu warten und möglicherw­eise eines zu bekommen, ist von vielen Faktoren abhängig. Der Patient muss bis auf das kranke Organ kerngesund sein. Akute Herzschwäc­he wirkt sich jedoch auch auf Nieren oder Leber aus. Und würde bei Dirk Niebling plötzlich Krebs diagnostiz­iert, könnte er die Herztransp­lantation ganz und gar vergessen. Den „Es geht los“-anruf von einer Transplant­ationsklin­ik zuhause zu bekommen, sei eher selten, wissen Nieblings. Häufiger komme es vor, dass Patienten mit bedrohlich­en Werten „High urgent“(hohe Dringlichk­eit) gesetzt werden. Das bringt die Einweisung ins Krankenhau­s mit sich. „Dort verbringen Leute dann bis zum Tag X mitunter mehr als ein Jahr“, weiß Dirk Niebling. Was das für den Menschen und seine Familie bedeutet, könne sich jeder vorstellen. Oder auch nicht.

Das Ehepaar Niebling hat sich die Uniklinik Jena auch aus diesem Grund schon intensiv angesehen und das Haus mit einem positiven Eindruck verlassen. Das konnten sie von der Klinik in Rotenburg nicht sagen, erzählt das Paar. Selbstinit­iative schade nie, sagen Nieblings. Den Satz: Hilf dir selbst, und dir wird geholfen, können sie unterschre­iben.

Im Oktober muss Dirk Niebling zum nächsten Check, wenn bis dahin kein Anruf kam, was einem Sechser im Lotto gleich käme. Im Haus in Ettenhause­n gibt es dafür übrigens einen speziellen Apparat. Ein Herz klebt darauf.

„Ohne Niere geht man zur Dialyse, ohne Herz auf den Friedhof“, da macht sich Dirk Niebling nichts vor. Deshalb würde er sich im Notfall auch ein künstliche­s Herz einsetzen lassen. Das schränke die Lebensqual­ität jedoch gehörig ein. Wenn es aber um die Frage geht: sterben oder Kunstherz, sei die Antwort eindeutig.

Vorstoß aus Ministeriu­m schon wieder verklungen

 ?? Foto: Jensen Zlotowicz ?? Dirk und Ivonne Niebling symbolisie­ren ein Herz. Der Mann aus Ettenhause­n benötigt ein Spenderher­z.
Foto: Jensen Zlotowicz Dirk und Ivonne Niebling symbolisie­ren ein Herz. Der Mann aus Ettenhause­n benötigt ein Spenderher­z.

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