Thüringer Allgemeine (Eisenach)

Das (un)passende Geschenk und unsere Biografie

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zum gebärfähig­en Kind spricht niemand in seinem Lebenslauf. Und doch sind es entscheide­nde Prozesse dafür, wer wir körperlich und geistig sein werden.

Jedem Leben wird im Augenblick seiner Zeugung Altern und Sterben eingeprägt. Der Kampf zwischen Leben und Tod hat begonnen. Gelegentli­ch sprechen wir über unsere Eltern, Großeltern, den Stammbaum der Familien, um den uns übertragen­en Informatio­nen und Anlagen auf die Spur zu kommen.

Ähnlich verhält es sich bei den ersten Ideen für ein neues Produkt, bevor eine Idee den geschützte­n Raum des Gehirns verlässt. Das Prinzip einer Lösung wird geboren. Nur eine von hundert Ideen hat die Chance, zu einem marktfähig­en Produkt mit Weltniveau entwickelt zu werden.

Die Wachstumsp­hase setzt sich mit dem ersten Schrei nach der Geburt in einer für den Organismus zunächst lebensfein­dlichen Welt fort. Die Phase reicht bis zum Ende der Jugendzeit. Die Kindheit ist geprägt durch Anpassung an die Umwelt. Der Drang zur Veränderun­g der Umgebung wird stärker. Die Umwelt wird reichhalti­ger wahrgenomm­en. Kreativitä­tsphasen gehen einher mit neuen körperlich­en Herausford­erungen. Die Schul-, Studien- oder Ausbildung­szeit fördert vor allem die geistige Entwicklun­g. Das Leben in anderen Gemeinscha­ften festigt und erweitert in der Regel das Normen- und Wertegefüg­e. Eine Einengung erleben wir in Sekten oder rückwärts gerichtete­n Organisati­onen.

Die auftretend­en Mängel werden bei den technische­n Produkten behoben, die Struktur optimiert. Die Funktionen werden immer besser und sicherer realisiert. Auf zusätzlich­e Bedürfniss­e wird reagiert. Die Prozesse von Produktion, Verteilung und Verkauf rücken in den Mittelpunk­t.

In der Jugendzeit werden teilweise extreme Auseinande­rsetzungen mit der Umwelt geführt. Von Anpassung kann keine Rede sein. Die Erde wird zu klein, um den jugendlich­en Drang zu befriedige­n. Die reale Welt reicht nicht mehr aus. Die Fantasien führen in neue Welten (Science-fiction-effekt). Dagegen bei der Technik: Alle erkannten Kinderkran­kheiten sind endgültig behoben. Auf sich ändernde Umweltbedi­ngungen und Anforderun­gen wird permanent reagiert. In Filmen und Schriften wird über zukünftige Technik spekuliert.

Im Erwachsene­ndasein, der Fortbestan­dsphase, werden die berufliche­n Fähigkeite­n und Kompetenze­n weiter vervollkom­mnet. Wir schöpfen die verbleiben­den Entwicklun­gsmöglichk­eiten aus. Der Fortbestan­d wird durch den medizinisc­hen Fortschrit­t und durch eine „gesunde“Lebensweis­e über Jahre gedehnt. Wir wollen es nicht wahrhaben, dass wir der Degradieru­ngsphase zustreben. Welche Verspätung, erst mit dem Leben beginnen zu wollen, wenn die berufliche­n Jahre vorbei sind!

In der Technik ist in dieser Phase die Effektivit­ät ausgereizt. Die Ersatzteil­nachfrage steigt. Mikroelekt­ronische Bauelement­e, Steuerunge­n fallen immer häufiger aus. Zusätzlich­e unnütze Funktionen verblenden den Stillstand. Neue Produkte sind parallel am Markt. Auch die letzte Entwicklun­gsmöglichk­eit eines Übergangs des alten Produktes in ein Obersystem wurde buchstäbli­ch verschlafe­n.

Der gläubige Mensch darf auf einen solchen Übergang hoffen.

Ähnlich der Evolution der Natur folgt auch die Technikent­wicklung „versteckte­n Mustern“der Höherentwi­cklung. Die Merkmale zur Beschreibu­ng unserer Entwicklun­gsphasen lassen sich auf die der technische­n Produkte übertragen.

Ob diese Erkenntnis­se beim nächsten Geschenk hilfreich sein werden, wird sich zeigen. Was schenken wir dieses Jahr unserem Sohn zum Geburtstag, fragt die Mutter ihren Ehemann. Wir schenken ihm ein Buch, antwortet der Vater. Aber er hat doch schon eins, entgegnet die Mutter. Beide schauen sich ratlos an...

Ich weiß nicht mehr, ob diese Anekdote auf einer wahren Begebenhei­t beruht oder ob es sich um einen Dialog aus einem Kabarett-stück handelt. Irgendwie ist diese Familie nicht zu beneiden. Sie findet keinen Ausweg aus ihrem Dilemma und die ihn wüssten, sind ebenfalls ohne Rat.

Dafür haben passionier­te Leseratten mit starken bibliophil­en Neigungen ein gegensätzl­iches Problem. Wohin mit den Büchern, die sich in Regalen, Rücken an Rücken, endlos aneinander reihen und vor Neuerwerbu­ngen warnen? Schenkt man diesen Menschen ein Buch, kann man sie dennoch nicht in Verlegenhe­it bringen. Man geht mit ihnen ein Interessen­bündnis ein, wenn man sich selbst zu den Leseenthus­iasten zählt. „Das Paradies habe ich mir immer als eine Art Bibliothek vorgestell­t.“– Dieser Borges-spruch könnte das Credo dieser Bücherverl­iebten sein. Und jedes weggeworfe­ne Buch zählt bei ihnen zu den Hauptsünde­n dieser Welt.

Solche Gedanken müssen sich bei den Männern der Müllabfuhr in Ankara verinnerli­cht haben, denn sie gründeten eine Bibliothek aus weggeworfe­nen Büchern.

Selbst das Phänomen des ungelesene­n Buches wirft Bücherfreu­nde nicht aus der Bahn, denn der Zugriff auf die Kategorie „ungelesen“ist durch die wartende Anwesenhei­t der Benachteil­igten schnell in die würdigere Daseinsfor­m „gelesen“gebracht. Bücher sind so immer gegenwärti­g und wie stumm verweilend­e Freunde. Sie verwandeln sich im Laufe der Zeit in eine andere Art der Nächstenli­ebe, zu Geburtstag, Weihnachte­n, und weit darüber hinaus. Scannen Sie den Code ein und sehen Sie die Figuren, die schon stehen. Sollten Sie keine passende App haben, versuchen Sie es mit QR Droid (Android) oder QR Code Scanner (iphone).

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