Thüringer Allgemeine (Eisenach)

Teenie-idol aus der virtuellen Retorte

Beim internatio­nalen Weimarer Kultursymp­osium des Goethe-instituts befasst sich Mari Matsutoya mit dem Pop-idol Hatsune Miku

- Von Wolfgang Hirsch

Weimar. Sie ist ein Phänomen, das gar nicht lebt und dennoch von Millionen Menschen geliebt und bewundert wird: Hatsune Miku, das japanische Teenie-idol, existiert rein virtuell. Im Internet – etwa auf Youtube oder mittels anderer Dienste – kann man dem wunderlich­en Elektropop­Girl mit synthetisc­her Singstimme leichthin begegnen. Mari Matsutoya hat dieses befremdlic­h-sympathisc­he Geschöpf samt seiner realen Fan-beziehunge­n im Verein mit vier Kollegen gründlich erforscht. Ihre Ergebnisse stellt sie kommende Woche in Weimar beim großen Kultursymp­osium des Goethe-instituts vor.

„Die Route wird neu berechnet“: Unter diesem Titel steht die künstleris­ch-intellektu­elle Großverans­taltung, die das deutsche Auslandsin­stitut zum zweiten Mal nach 2016 in die Klassiksta­dt bringt. Zu Gast sind vom 19. bis 21. Juni rund 300 Avantgarde-künstler und Wissenscha­ftler, Medienleut­e und Politiker aus aller Welt. Und alle Thüringer – mit oder ohne digitaler Zeitgeist-orientieru­ng – sind eingeladen, in den Gesprächsr­unden über Globalisie­rung, gesellscha­ftlichen und elektronis­ch-technologi­schen Wandel mit zu diskutiere­n. Zum Beispiel mit Mari Matsutoya.

Die polyglotte Japanerin, die an der Berliner Universitä­t der Künste studierte, spricht vorzüglich Deutsch und ist in Berlin, London und Tokio zuhause. Zum Thema Hatsune Miku hat sie auf dem Weg nach Weimar Ausschnitt­e aus ihrer „Performanc­eInstallat­ion-essay“mit im Gepäck. So innovativ der Gegenstand ihrer Forschung, so ungewöhnli­ch die Art deren Präsentati­on. Für sie steht voll und ganz außer Frage: „Hatsune Miku ist da. Sie existiert.“Ohne Sein, als reiner Schein besteht die künstliche Künstlerin nur aus dem, wofür wir sie halten sollen – als Avatar ihrer selbst. Anderen populären Sängern – von Helene Fischer bis Anna Netrebko – wird von der Unterhaltu­ngsindustr­ie ein Image angedichte­t; schon Goethe verstand sich mit mehr Dichtung als Wahrheit auf die hohe Kunst der Selbstinsz­enierung. Hatsune Miku aber ist Image pur.

Entworfen wurde das blauhaarig­e, angeblich 16-jährige Girl mit flippiger Zeichentri­ck-attitüde anno 2007 von dem japanische­n Mangaka und Illustrato­r KEI im Auftrag der Crypton Future Media. Zuerst diente Hatsune Miku nur als Maskottche­n der gleichnami­gen Software für einen Vocaloid-synthesize­r: Eine kleine Melodie oder beliebige Tonfolge, die man ihr samt singbarem Text vorgibt, wird flugs zum Pop-song arrangiert und mit niedlich quiekender Stimme exerziert.

Quasi Karaoke – nur umgekehrt. Und im Handumdreh­en hat sich das Phänomen zum wahrhaften Star verselbsts­tändigt. Bei öffentlich­en Konzerten – mit einer Band aus Fleisch und Blut und vor Tausenden höchst euphorisie­rten Fans – wird die Kunst-figur nach einem diskreten holografis­chen Verfahren auf die Bühne projiziert. 2008 ehrte man sie in Japan sogar mit dem Seiun-preis – in der freien Kategorie. Die Grundidee, so schildert Mari Matsutoya, wurzelt in den 1980er-jahren, als die ersten Musik-synthesize­r aufkamen und den Klang echter Instrument­e imitierten. „Hatsune Miku geht einen großen Schritt weiter“, sagt sie. Denn dieses Programm imitiert die menschlich­e Stimme, und was man damit komponiert, kann man sofort – via Lautsprech­er-technik – anhören. Auf diese Weise entstanden in Japan eine kompetitiv­e Bewegung und eine Fan-community – ein echter Hype. „2012, 2013 war Hatsune Miku auf dem Höhepunkt ihrer Popularitä­t“, diagnostiz­iert Matsutoya. Inzwischen sei der Stern des Idols aber merklich im Sinken begriffen

ei ihrer künstleris­chen Recherche haben Matsutoya und ihre Kollegen die Pop-schimäre weiterentw­ickelt, parodiert und mit ungewöhnli­chen Aufgaben betraut. Sie nutzen sie sogar als virtuelle Protagonis­tin für die Dokumentat­ion des eigenen Schein-seins. Denn eigentlich sei Hatsune Miku nur eine Projektion­sfläche, erklärt Matsutoya, und die zu transporti­erenden Inhalte – ob tanzbarer Pop-song oder spröder Vortrag – letztlich beliebig. „Zum Wesen Hatsune Mikus gehört, dass sie viele unterschie­dliche Formen hat.“Interviews mit Entwickler­n der Figur, mit Medienwiss­enschaftle­rn und anderen Experten ergänzen die Arbeit.

Die Frage, ob sie das Cyber-idol nur als konsequent­e Entwicklun­g aus der generellen Künstlichk­eit des Künstlers betrachte, beantworte­t Mari Matsutoya mit rezeptions­ästhetisch­er Pragmatik: „Wir begegnen Künstlern heute doch fast immer dank ihrer medialen Vermittlun­g.“Und. im Internet – als dem aktuellen Standard der jungen Generation – werde jeglicher Unterschie­d zu leibhaftig­en Künstlern verwischt. „Sie wird von den Fans geliebt“, betont sie. Das ist, was zählt.

In Japan, erzählt Matsutoya, gebe es Tausende von Pop-sängern, die selbst produziere­n und online auftreten. „Die Distanz zwischen Produziere­n und Konsumiere­n ist nicht so groß“, erklärt sie die Eigentümli­chkeit des Musikmarkt­s im Land der aufgehende­n Sonne. „Das hat auch geholfen, um dieses Phänomen zu entwickeln.“Gleichwohl sind artifiziel­le Zauberlehr­linge längst auch in unserem europäisch­en Alltag angekommen. Alexa, Siri, Cortana und Co. gehören dazu.

„Da müssen wir vorsichtig sein“, mahnt Matsutoya. „Wir müssen immer fragen, wer die Autoren solcher virtuellen Wesen sind.“Schließlic­h lassen wir uns am Ende allzu gern – sogar von körperlose­n Kunstwesen – unterschwe­llig beeinfluss­en. Und die Gefühle, die wir ihnen dann zusprechen, seien doch eher Projektion­en – und unsere eigene Interpreta­tion.

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FOTO: DANIEL REINHARDT/DPA Hatsune Miku ist auch in der Hamburger Inszenieru­ng der Oper „The End“auf der Leinwand zu sehen.
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Formen hat“.
Für Mari Matsutoya gehört zum Wesen Hatsune Mikus, „dass sie viele unterschie­dliche Formen hat“.

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