Thüringer Allgemeine (Eisenach)
„Ich bin überwältigt“
Eu-parlament wählt Ursula von der Leyen zur Kommissionspräsidentin. Sie steht vor großen Herausforderungen
Brüssel. Es hat also doch geklappt für Ursula von der Leyen nach diesem langen Tag. Um 19.33 Uhr verliest Parlamentspräsident David Sassoli in fröhlichem Italienisch das Abstimmungsergebnis, das eine wichtige Weichenstellung für die EU bedeutet – und für von der Leyen die überraschende Krönung ihres politischen Lebens. 383 der 747 Abgeordneten haben für sie als nächste Eu-kommissionspräsidentin gestimmt, das liegt nur wenig über der absoluten Mehrheit von 374 Stimmen. Die neue „Mrs. Europa“atmet tief durch, lacht, zieht die Augenbrauen hoch. Das war ganz schön knapp. Sie sagt: „Ich bin überwältigt.“
Nicht nur von der Leyens Christdemokraten, auch die Liberalen und größere Teile der Sozialdemokraten haben in der geheimen Wahl für sie gestimmt – also jene Parteifamilien, deren Regierungschefs von der Leyen beim Eu-sondergipfel vor zwei Wochen ins Spiel gebracht hatten. Sie ist die erste Frau in dem wichtigsten europäischen Amt und die erste Deutsche seit über 50 Jahren. Bewegt spricht sie in ihrer kurzen Rede von einer „großen Ehre“und sagt: „Die Arbeit beginnt jetzt.“
Die Mehrheit war knapper als zuletzt erwartet. Mit der Rede ihres Lebens schien sie am Morgen im Straßburger Eu-parlament Zweifler auf ihre Seite gezogen zu haben: „Ich bin Europäerin gewesen, bevor ich gelernt habe, dass ich Deutsche und Niedersächsin bin“, erzählt sie über ihre ersten Kindheitsjahre in Brüssel von 1958 bis 1971. „Deshalb gibt es für mich nur eines: Europa einen und stärken.“
Die Cdu-politikerin steht an einem kleinen Pult, breitet immer wieder die Arme aus, während sie redet. Von der Leyen belässt es aber nicht bei leidenschaftlichen Bekenntnissen, sondern stellt ein ehrgeiziges Regierungsprogramm vor. Wie viel sie davon durchsetzen wird, ist offen, alle Kommissionsvorschläge müssen von Parlament und dem EU-RAT abgesegnet werden. Doch hat von der Leyen Erfolg, steht Europa vor einem neuen Aufbruch, Staaten wie Deutschland aber auch vor neuen Herausforderungen.
Klimaschutz: Für von der Leyen die größte Aufgabe. Bis 2050 soll Europa als erster Kontinent klimaneutral werden. Dazu werde sie in den ersten 100 Tagen einen „grünen Deal“vorschlagen mit Investitionen von einer Billion Euro über zehn Jahre. Die Treibhausgase sollen in der EU bis 2030 um 55 Prozent reduziert werden im Vergleich zu 1990, bisher waren nur 40 Prozent vorgesehen. Ärger mit der Wirtschaft ist programmiert, auch bei den Christdemokraten gibt es Gemurre.
Soziales: Von der Leyen will schon in den ersten 100 Tagen die Grundlage für Mindestlöhne in allen Eu-staaten legen, kündigt eine Arbeitslosen-rückversicherung als Notkasse an, wenn einzelne Eu-staaten in Schieflage kommen. Beides waren zentrale Punkte der SPD im Europawahlkampf.
Migration: Ein neuer Migrations- und Asylpakt soll die bisherige Reformblockade innerhalb der EU lösen. Die Grenzschutztruppe Frontex soll schneller ausgebaut werden. Die EU brauche aber humane Grenzen: „Auf See ist es Pflicht, Leben zu retten.“Sie erzählt, dass ihre Familie 2015 einen syrischen Flüchtling aufgenommen habe, der jetzt eine Berufsausbildung mache. Eine Ansage, dass von der Leyen hinter der Flüchtlingspolitik Merkels steht.
Gleichberechtigung: In den ersten Sätzen erinnert sie an Simone Veil, die vor 40 Jahren erste Präsidentin des Eu-parlaments war. Jetzt kandidiere endlich eine Frau auch für die Kommissionsspitze. Sie werde für Geschlechterparität bei den 27 EUKommissaren sorgen, verspricht von der Leyen: „Wir wollen unseren gerechten Anteil.“
Rechtsstaat: Von der Leyen bekräftigt, Rechtsstaatsverstöße einzelner Eu-staaten werde sie konsequent ahnden – das zielt auf die Regierungen Ungarns und Polens, die gehofft haben, von der Leyen werde milder vorgehen als die alte Kommission. Sie will Fördermittel an die Einhaltung der Rechtsstaatsprinzipien knüpfen, allerdings sollen die entsprechenden Prüfungen alle Eu-staaten betreffen. Von der Leyen ist bemüht, den Vor
wurf der Nachsicht gegenüber Rechtsaußen-parteien zu widerlegen. Nach der Rede von AFDChef Jörg Meuthen ruft sie: „Wenn ich Ihnen zugehört habe, dann bin ich ja geradezu erleichtert, dass ich von Ihnen keine Stimme bekomme.“
Spitzenkandidaten: Bis zur nächsten Europawahl soll das Spitzenkandidatenprinzip mit länderübergreifenden Kandidatenlisten verankert sein.
Die Rede bringt viele in Erklärungsnot: Grünen-fraktionschefin Ska Keller räumt ein, von der Leyen habe „eine schöne Rede“gehalten – doch fehlten ihr konkrete Zusagen. Die Grünen und die Linken haben sich – wie die Rechtsnationalen – früh auf ein Nein festgelegt, dabei bleibt es. Auch die Ablehnung der deutschen Sozialdemokraten wackelt nicht, doch ihre Fraktionsführung plädiert am frühen Abend für die Zustimmung der Genossen: „Wir werden von der Leyen unterstützen, solange sie ihre Versprechen einhält“, sagt Fraktionschefin Iratxe Garcia.
Von der Leyen muss nun die Besetzung der 27 Kommissarsposten vorbereiten. Ein politisch heikles Puzzle-spiel. Am Mittwoch ist aber erst mal Berlin an der Reihe: der offizielle Rücktritt als Verteidigungsministerin. In den frühen Morgenstunden wollte von der Leyen von Straßburg nach Berlin fliegen, um an der Kabinettssitzung teilzunehmen. Nach 14 Jahren zum letzten Mal.