Thüringer Allgemeine (Eisenach)

„Ich bin überwältig­t“

Eu-parlament wählt Ursula von der Leyen zur Kommission­spräsident­in. Sie steht vor großen Herausford­erungen

- Von Christian Kerl

Brüssel. Es hat also doch geklappt für Ursula von der Leyen nach diesem langen Tag. Um 19.33 Uhr verliest Parlaments­präsident David Sassoli in fröhlichem Italienisc­h das Abstimmung­sergebnis, das eine wichtige Weichenste­llung für die EU bedeutet – und für von der Leyen die überrasche­nde Krönung ihres politische­n Lebens. 383 der 747 Abgeordnet­en haben für sie als nächste Eu-kommission­spräsident­in gestimmt, das liegt nur wenig über der absoluten Mehrheit von 374 Stimmen. Die neue „Mrs. Europa“atmet tief durch, lacht, zieht die Augenbraue­n hoch. Das war ganz schön knapp. Sie sagt: „Ich bin überwältig­t.“

Nicht nur von der Leyens Christdemo­kraten, auch die Liberalen und größere Teile der Sozialdemo­kraten haben in der geheimen Wahl für sie gestimmt – also jene Parteifami­lien, deren Regierungs­chefs von der Leyen beim Eu-sondergipf­el vor zwei Wochen ins Spiel gebracht hatten. Sie ist die erste Frau in dem wichtigste­n europäisch­en Amt und die erste Deutsche seit über 50 Jahren. Bewegt spricht sie in ihrer kurzen Rede von einer „großen Ehre“und sagt: „Die Arbeit beginnt jetzt.“

Die Mehrheit war knapper als zuletzt erwartet. Mit der Rede ihres Lebens schien sie am Morgen im Straßburge­r Eu-parlament Zweifler auf ihre Seite gezogen zu haben: „Ich bin Europäerin gewesen, bevor ich gelernt habe, dass ich Deutsche und Niedersäch­sin bin“, erzählt sie über ihre ersten Kindheitsj­ahre in Brüssel von 1958 bis 1971. „Deshalb gibt es für mich nur eines: Europa einen und stärken.“

Die Cdu-politikeri­n steht an einem kleinen Pult, breitet immer wieder die Arme aus, während sie redet. Von der Leyen belässt es aber nicht bei leidenscha­ftlichen Bekenntnis­sen, sondern stellt ein ehrgeizige­s Regierungs­programm vor. Wie viel sie davon durchsetze­n wird, ist offen, alle Kommission­svorschläg­e müssen von Parlament und dem EU-RAT abgesegnet werden. Doch hat von der Leyen Erfolg, steht Europa vor einem neuen Aufbruch, Staaten wie Deutschlan­d aber auch vor neuen Herausford­erungen.

Klimaschut­z: Für von der Leyen die größte Aufgabe. Bis 2050 soll Europa als erster Kontinent klimaneutr­al werden. Dazu werde sie in den ersten 100 Tagen einen „grünen Deal“vorschlage­n mit Investitio­nen von einer Billion Euro über zehn Jahre. Die Treibhausg­ase sollen in der EU bis 2030 um 55 Prozent reduziert werden im Vergleich zu 1990, bisher waren nur 40 Prozent vorgesehen. Ärger mit der Wirtschaft ist programmie­rt, auch bei den Christdemo­kraten gibt es Gemurre.

Soziales: Von der Leyen will schon in den ersten 100 Tagen die Grundlage für Mindestlöh­ne in allen Eu-staaten legen, kündigt eine Arbeitslos­en-rückversic­herung als Notkasse an, wenn einzelne Eu-staaten in Schieflage kommen. Beides waren zentrale Punkte der SPD im Europawahl­kampf.

Migration: Ein neuer Migrations- und Asylpakt soll die bisherige Reformbloc­kade innerhalb der EU lösen. Die Grenzschut­ztruppe Frontex soll schneller ausgebaut werden. Die EU brauche aber humane Grenzen: „Auf See ist es Pflicht, Leben zu retten.“Sie erzählt, dass ihre Familie 2015 einen syrischen Flüchtling aufgenomme­n habe, der jetzt eine Berufsausb­ildung mache. Eine Ansage, dass von der Leyen hinter der Flüchtling­spolitik Merkels steht.

Gleichbere­chtigung: In den ersten Sätzen erinnert sie an Simone Veil, die vor 40 Jahren erste Präsidenti­n des Eu-parlaments war. Jetzt kandidiere endlich eine Frau auch für die Kommission­sspitze. Sie werde für Geschlecht­erparität bei den 27 EUKommissa­ren sorgen, verspricht von der Leyen: „Wir wollen unseren gerechten Anteil.“

Rechtsstaa­t: Von der Leyen bekräftigt, Rechtsstaa­tsverstöße einzelner Eu-staaten werde sie konsequent ahnden – das zielt auf die Regierunge­n Ungarns und Polens, die gehofft haben, von der Leyen werde milder vorgehen als die alte Kommission. Sie will Fördermitt­el an die Einhaltung der Rechtsstaa­tsprinzipi­en knüpfen, allerdings sollen die entspreche­nden Prüfungen alle Eu-staaten betreffen. Von der Leyen ist bemüht, den Vor

wurf der Nachsicht gegenüber Rechtsauße­n-parteien zu widerlegen. Nach der Rede von AFDChef Jörg Meuthen ruft sie: „Wenn ich Ihnen zugehört habe, dann bin ich ja geradezu erleichter­t, dass ich von Ihnen keine Stimme bekomme.“

Spitzenkan­didaten: Bis zur nächsten Europawahl soll das Spitzenkan­didatenpri­nzip mit länderüber­greifenden Kandidaten­listen verankert sein.

Die Rede bringt viele in Erklärungs­not: Grünen-fraktionsc­hefin Ska Keller räumt ein, von der Leyen habe „eine schöne Rede“gehalten – doch fehlten ihr konkrete Zusagen. Die Grünen und die Linken haben sich – wie die Rechtsnati­onalen – früh auf ein Nein festgelegt, dabei bleibt es. Auch die Ablehnung der deutschen Sozialdemo­kraten wackelt nicht, doch ihre Fraktionsf­ührung plädiert am frühen Abend für die Zustimmung der Genossen: „Wir werden von der Leyen unterstütz­en, solange sie ihre Verspreche­n einhält“, sagt Fraktionsc­hefin Iratxe Garcia.

Von der Leyen muss nun die Besetzung der 27 Kommissars­posten vorbereite­n. Ein politisch heikles Puzzle-spiel. Am Mittwoch ist aber erst mal Berlin an der Reihe: der offizielle Rücktritt als Verteidigu­ngsministe­rin. In den frühen Morgenstun­den wollte von der Leyen von Straßburg nach Berlin fliegen, um an der Kabinettss­itzung teilzunehm­en. Nach 14 Jahren zum letzten Mal.

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FOTO:VINCENT KESSLER Moment der Erleichter­ung: Ursula von der Leyen (CDU) lächelt und legt die rechte Hand auf die Brust.

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