Thüringer Allgemeine (Eisenach)
Massentests kosten bis zu 7,6 Milliarden
Kassen drängen auf Kostenübernahme
Berlin. Nicht nur die wirtschaftlichen Folgen der Corona-krise schlagen zu Buche – auch die direkte Bekämpfung der Epidemie ist teuer. Italien startet unterdessen seine Warn-app.
Teure Tests
Die von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) geplante Ausweitung der Corona-tests würde in diesem Jahr bis zu 7,6 Milliarden Euro kosten. Das geht aus einer Stellungnahme des Gkv-spitzenverbands hervor, die der „Neuen Osnabrücker Zeitung“vorlag. Der Kassenverband warnt zugleich vor dadurch erforderlichen Beitragssteigerungen um 0,8 Punkte für die 73 Millionen gesetzlich Versicherten. In ihrer Stellungnahme verlangen die Kassen die vollständige Kostenübernahme.
Abschiebungen verhindert
Wegen der Corona-beschränkungen sind nach Angaben der „Bild“in den vergangenen zweieinhalb Monaten 237 Rückführungen ausreisepflichtiger Personen aus Bayern ausgefallen. Hauptgrund waren die Beschränkungen des Flugreiseverkehrs und die Einreisebestimmungen der Zielländer. Geplant gewesen seien 175 Einzel- und 13 Sammelabschiebungen.
„Nach den Lockerungen erwarten wir alle intuitiv, dass die Fälle wieder zunehmen müssten.“Christian Drosten, Virologe
Start für „Immuni“
Italien startet mit seiner angekündigten Warn-app im Kampf gegen die Corona-pandemie. Die Anwendung auf dem Smartphone soll Bürgern einen Hinweis senden, wenn sie sich in der Nähe eines Infizierten aufgehalten haben. Die kostenlose App mit dem Namen „Immuni“, die ein Mailänder Unternehmen entwickelt hat, stehe zum Runterladen aufs Handy bereit, teilte das Gesundheitsministerium mit. Ab kommendem Montag würden die Funktionen aktiviert.
Auf einem Smartphone ist die App Immuni installiert.
Luftbrücke
Die britische Regierung will mit sogenannten Luftbrücken geplante Quarantäne-maßnahmen für viele Flugreisende umgehen. Premierminister Boris Johnson favorisiere diese Lösung, zitierte der „Telegraph“eine nicht näher genannte Regierungsquelle. Demnach müssen Flugpassagiere bei ihrer Einreise nach Großbritannien künftig nicht in eine 14-tägige Quarantäne, wenn sie aus einem Land mit geringem Ansteckungsrisiko kommen.
Russisches Konjunkturpaket
Die russische Regierung will mit einem riesigen Konjunkturpaket die Wirtschaft des Landes in der Corona-krise unterstützen. Das Programm werde ein Gesamtvolumen von rund fünf Billionen Rubel (rund 65 Milliarden Euro) umfassen, sagte Ministerpräsident Michail Mischustin. Vorgesehen seien mehr als 500 Einzelmaßnahmen, und das Programm sei auf zwei Jahre angelegt, sagte Mischustin. afp, dpa
Wie ist die aktuelle Lage?
Einerseits gibt es seit Wochen einen sinkenden Trend bei den Neuinfektionen. Zuletzt meldeten die Gesundheitsämter dem Robert-kochInstitut (RKI) 213 Corona-infektionen binnen einem Tag, damit haben sich seit Beginn der Corona-krise 182.028 Menschen in Deutschland nachweislich mit Sars-cov-2 angesteckt (Datenstand 2. Juni, 0 Uhr). Die Zahlen sind zu Wochenbeginn wegen Meldeverzögerungen jedoch oft niedriger. Die Reproduktionszahl, kurz R-wert, lag am Montag dagegen bei 1,20. Zwar schätzte das RKI sie für ganz Deutschland am Dienstag wieder deutlich niedriger ein: 0,89. Aber in Berlin kletterte der aktuelle R-wert auf 1,95. Das bedeutet, dass 100 Infizierte in der Bundeshauptstadt derzeit 195 weitere Menschen anstecken.
Wichtig ist: Die aktuellen Zahlen beschreiben nicht das gegenwärtige Infektionsgeschehen, sondern bilden ab, was vor einigen Tagen passiert ist. Ob und wie sich das Pfingstwochenende auswirkt, wird deswegen ebenfalls erst mit zeitlicher Verzögerung sichtbar. Genauso beim RWert: Er bildet jeweils das Infektionsgeschehen etwa eineinhalb Wochen zuvor ab.
Wann ist der R-wert alarmierend? Noch vor wenigen Wochen hätte ein Wert über eins große Sorge und in der Folge auch politische Entscheidungen ausgelöst. Denn R größer eins bedeutet, dass sich das Virus weiter ausbreitet. Doch die Zahl der Infizierten in Deutschland ist derzeit so niedrig, dass ein hoher RWert nicht automatisch einer Katastrophe gleichkommt, betont Professor Markus Scholz vom Institut für Medizinische Informatik an der Universität Leipzig. „Wenn das Infektionsgeschehen niedrig ist, reagiert das R auf lokale Ereignisse wie etwa in Göttingen sehr leicht“, erklärt Scholz. Die sogenannten Superspreading-events, bei denen sich lokal begrenzt viele Menschen in kurzer Zeit anstecken, können also R in die Höhe schnellen lassen, ohne dass das ganze Land vor einer zweiten Infektionswelle steht.
Wem noch die Warnung von Kanzlerin Angela Merkel Sorge bereitet, nach der das Gesundheitssystem bei einem R-wert von 1,2 bereits drei Monate später seine Belastungsgrenze erreicht haben könnte, muss auch die Zahl der Infizierten einbeziehen. Im April, als Merkel warnte, waren fast 2500 Neuinfektionen gemeldet worden. „Derzeit muss niemand fürchten, dass wir an die Kapazitätsgrenze der Intensivbetten stoßen“, bestätigt Scholz.
Hinzu kommt, dass das RKI neuerdings einen weiteren R-wert angibt, der einen längeren Zeitraum umfasst und Schwankungen glättet.
Er ist genauer. Dieser Wert lag zuletzt bei 0,87 – also unter 1. Der Berliner Virologe Christian Drosten riet am Dienstag dazu, den R-wert nicht überzubewerten: Man müsse im Moment weniger auf den R-wert schauen als auf die Zahl der Neuinfektionen.
Welche Rolle spielen Superspreader? In Frankfurt infizierten sich nach einem Gottesdienst mehr als 200 Menschen, in Ostfriesland nach einem Restaurantbesuch mehr als 30 – Hunderte mussten in Quarantäne. Die Superspreading-events häufen sich. „Also solche Ereignisse, die die Ausbreitung der Pandemie massiv beschleunigen“, sagt Friedemann Weber, Professor für Virologie an der Justus-liebig-universität Gießen. SuperspreadingEvents sind zeitlich und räumlich begrenzt, die daraus resultierenden Neuinfektionen lassen sich meist auf eine oder wenige Personen zurückführen.
Als Superspreader wiederum werden Menschen bezeichnet, die infiziert sind und besonders viele Personen anstecken. „Dass sie viele infizieren, könnte daran liegen, dass betreffende Personen überdurchschnittlich infektiös oder sozial aktiv sind. Oder aber unterdurchschnittlich vorsichtig“, so Weber. Stress oder Begleiterkrankungen können das Abwehrsystem unterdrücken, wodurch die Viruslast steigt. Grundsätzlich kann jeder Infizierte, der mit vielen Menschen Kontakt hat, zum Superspreader werden. Da manch Infizierter keine oder kaum Symptome hat, merkt dieser womöglich nicht einmal, dass er ansteckend ist. Und: Nicht immer liegt es am Infizierten selbst. Auch die Umstände sind entscheidend. Laut Weber spielt es beispielsweise eine große Rolle, ob Zusammenkünfte mehrerer Menschen draußen oder drinnen stattfinden.
Warum ist die zweite Welle bislang ausgeblieben?
Experten führen das vor allem auf zwei Faktoren zurück: die Maskenpflicht in vielen Bereichen des öffentlichen Raums – und das gute Wetter, dass dazu führt, dass viele Kontakte bei guten Lüftungsbedingungen stattfinden – durch offene Fenster, durch Begegnungen im Freien. Je größer der Luftaustausch ist, desto schneller werden hochinfektiöse Aerosole unschädlich.
„Nach den Lockerungen erwarten wir alle intuitiv, dass die Fälle wieder zunehmen müssten“, sagte Drosten am Dienstag in seinem Podcast. Aber: Es gebe inzwischen eben zahlreiche Effekte, die dagegen spielten. Neben der Maskenroutine sei das auch das Wissen darüber, dass das Coronavirus vor allem dann gut übertragen werde, wenn größere Menschenmengen in Innenräumen versammelt seien.