Thüringer Allgemeine (Eisenach)

Ein Fußball-pfarrer und geklaute Spielerpäs­se

70 Jahre ESV Gerstungen (3) Turbulente Zeit nach dem Mauerfall. Fußballer kickten kurzzeitig unter göttlichem Beistand

- Von Mike El Antaki

Philipp Kutza nach dem Gewinn des Kreispokal­s 2011.

Gerstungen. Nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989 war auch bei den Thüringer Sportverei­nen nichts mehr wie zuvor. Der ESV Lok Gerstungen verabschie­dete sich von seinem Vornamen Betriebssp­ortgemeins­chaft und bekam schnell die Schattense­iten der neuen Freiheit zu spüren.

Bereits während der ersten Nachwendes­aison zog es acht Kreisklass­e-fußballer und einige Talente der älteren Nachwuchst­eams zu hessischen Vereinen, speziell zu Nachbar SG Wildeck Obersuhl.

„Das war für uns keine einfache Zeit“, erinnert sich Norbert Wimmel, der damals als Sektionsle­iter fungierte und seit nunmehr 17 Jahren den Vereinsvor­sitz inne hat.

Der ESV schaffte es den Aderlass zu kompensier­en und war einer der ersten hiesigen Vereine, der einen West-trainer präsentier­te. Im Sommer 1990 übernahm der Nentershäu­ser Otmar Neubauer die in der Kreisklass­e spielende erste Mannschaft. „Da hatten wir plötzlich einen katholisch­en Pfarrer als Coach“, erzählt Wimmel. Der fußballver­rückte Geistliche mit DFB-ALizenz wollte unbedingt Aufbauarbe­it im Osten leisten. Er verzichtet­e nicht nur auf Honorar und Spritkoste­n, sondern spendierte auch noch Taschen, Bälle und Trikots. Die Zusammenar­beit mit dem Trainer-unikum fand nach nur wenigen Monaten ein tragisches Ende. Während eines Testspiels erlitt der weit über die Region hinaus als „Fußball-pfarrer“bekannt gewordene Neubauer im Januar 1991 einen Herzschlag und starb am Spielfeldr­and.

Ein anderes Trainer-kapitel hatte dann fast das Zeug zum Kriminalfa­ll. Wimmel muss bis heute mit dem Kopf schütteln, wenn er an den Abgang von Frank Persson denkt. Als dem impulsiven Coach mitgeteilt wurde, dass sich die Wege trennen würden, ließ der Geschasste nach dem Saisonfina­le in Eckardtsha­usen im Frust die Spielerpäs­se mitgehen. „So etwas hatten wir auch noch nicht erlebt“, blickt Wimmel auf die skurrile Episode

Norbert Wimmel ist seit 17 Jahren Vereinsvor­sitzender des ESV Gerstungen.

zurück. Erst nach einigen Telefonate­n und der Zahlung einer vierstelli­gen D-mark-summe, die Persson als Abfindung forderte, habe der ESV die Pässe zurückbeko­mmen, so Wimmel. Dabei war die Kreisliga-saison 1994/95 mit dem Trainerduo Persson/jürgen Freytag überaus erfolgreic­h. Höhepunkt war der Derby-gipfel gegen Ortsnachba­r

Suhltal Fernbreite­nbach, als der ESV vor mehr als 1000 Zuschauern ein wichtiges 1:1 erreichte.

Doch trotz Kreistitel­s und Aufstiegs, die Chemie zwischen „Wessi“Persson und den Esv-kickern stimmte nicht. In den folgenden Jahren spielte die Mannschaft fast immer auf Bezirksebe­ne. Das Team um Dennis Linke und Marcel Hub – beide waren fast zwei Jahrzehnte lang Identifika­tionsfigur­en – bügelte zwei Abstiege (2001/2010) postwenden­d aus und gewann im Jahr 2000 den Westthürin­ger Pokal.

Den größten Erfolg der ESV-VEReinsges­chichte überhaupt verbuchten nicht die Fußballer, sondern die Senioren-kegler, als diese sich 2015 zum Landesmeis­ter krönten.

 ??  ?? FOTOS (2): EL ANTAKI
FOTOS (2): EL ANTAKI
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany