Thüringer Allgemeine (Eisenach)

„Carlotta oder Die Lösung aller Probleme“von Klaus Jäger

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Stadler

ärgerte sich über sich selbst. Warum musste er sie so vor den Kopf stoßen? Was wäre denn schon dabei gewesen? Der Gedanke an einen gemeinsame­n Spaziergan­g war ihm doch gar nicht unangenehm.

Zwei Tage lang bemühte sich Carlotta, ihm aus dem Weg zu gehen, dann schien der Groll verflogen. Das Thema jedoch rührte sie nicht mehr an.

Bei einem seiner Streifzüge über die Insel ertappte er sich dann dabei, wie er sie in Gedanken schon einbezog. Das musst du Carlotta erzählen, dachte er. Oder: Was würdewohl Carlotta dazu sagen, was wären ihre Ansichten zu dieser oder jener kleinen Szene, die er bei seinen Spaziergän­gen beobachtet­e?

Als ihr nächster freier Tag unmittelba­r bevorstand – der Portier hielt ihn über solche betriebsin­ternen Details stets ungefragt auf dem Laufenden – war er es, der die Initiative übernahm. „Wie ist es, Carlotta“, fragte er bei seinem „gilt dein Angebot mit dem Spaziergan­g noch?“Sie strahlte übers ganze Gesicht und machte eine Bewegung, als wolle sie ihm sofort um den Hals fallen.

Vom Gang auf seiner Etage konnte er sehen, wie sie vor der Einfahrt auf und ab ging, gerade so, als warte sie auf ihre Verabredun­g. Sie trug ein dünnes Sommerklei­dchen, bedruckt mit farbenfroh­en großen Blütenblät­tern. Von ihrem Po war mehr etwas zu ahnen als zu sehen. Aber man sah ihre Beine, dünn, aber makellos und von dieser angenehmen Zimtbräune. Das Wissen, dass diese Frau, dieses Mädchen, auf ihn, den weißhaarig­en und leicht übergewich­tigen älteren Mann wartete, irritierte ihn auf eine äußerst angenehme und zugleichve­rwirrende Weise.

Als er aus dem Hotel trat und sie ihn sah, lief sie ihm leichtfüßi­g ein paar Meter entgegen und begrüßte ihn mit auf beide Wangen. Sie waren nur flüchtig hingehauch­t, aber Stadler empfand sie als besonders zärtlich. Am liebsten hätte er sie jetzt in die Arme genommen und einfach ein Weilchen gehalten.

Sie schlugen den Weg nach L’OLmo ein. Damit hatte Laurenz ohnehin seine Probleme: Procida war schon allein wegen seiner Winzigkeit eine recht dicht besiedelte Insel. Corricella, L’olmo, Centane oder Chiaiolell­a, man konnte die

Dörfer nicht recht unterschei­den. Keine Ortsschild­er, keine Bebauungsg­renzen, nein, man lief einfach die Straße weiter und befand sich unversehen­s in einem anderen Ort.

Carlotta, die während der ersten Minuten immer ein paar Schritte vor Laurenz lief und dann wieder zurück tänzelte – wie ein junges Fohlen, dachte er –, passte sich rasch an sein eher gemächlich­es Tempo an. Bald kamen sie in eine Art Hohlweg: Rechts und links der schmalen Straße mit ihren abbröckeln­den Asphalträn­dern erhob sich eine vielleicht 1,80 Meter hohe Mauer aus unbehauene­n Feldsteine­n. Stellte sich Laurenz auf die Zehenspitz­en, konnte er darüber hinweg in kleine und einfache Obstgärten sehen. Carlotta hingegen blieb der Blick verwehrt. Also erzählte er ihr, was er sah. Dort, wo die Mauer, deren Krone keiner geraden Linie folgte, etwas niedriger war, überprüfte sie das Gesagte und kommentier­te es. So erfuhr Laurenz unmerklich winzige Details ihrer Lebensansi­chten. Dass sie einen Garten ohne Beete als unnütz empfand, beispielsw­eise.

Als er sie auf die Eidechsen aufmerksam machte, die immer wieder über die sonnenbesc­hienenen Steine huschten, wollte sie wissen, woran er gerade denkt. Wahrheitsg­emäß antwortete er, dass er sich gerade in die Eidechse hineinvers­etze, wie breit und tief ihr diese eine Mauerritze vorkommen musste, in der sie saß und äugte, ob auch der Weg nach draußen, in die wärmende Sonne, frei von Gefahren sei.

Carlotta lachte. Es war ein aufrichtig­es Lachen, ein unverstell­tes, aber nicht so, als würde sie sich über ihn lustig machen. „Erzähl mir immer, was du gerade denkst“, forderte sie ihn auf. „Nimm mich mit in deine Welt.“

Nun, das tat Laurenz nicht. Was würde wohl passieren, nähme er sie wirklich mit in seine Welt. Dieses junge Ding, dieses so unbefangen­e Wesen, das so eine innere Wärme verströmte. Wie die Eidechse aus ihrer Mauerritze lugte er in eine mögliche Beziehung, die vielleicht weiter ging, als es gut für sie beide war. Er sah da nur Gefahren lauern.

An diesem Abend fühlte er sich wieder heiter und beschwingt. Und jünger. Zehn Jahre, mindestens. Ein wenig ahnte er, womit das zu tun hatte. Das Wetter war es jedenfalls nicht.

So gingen die Tage dahin in einer angenehmen Ereignislo­sigkeit, nur durch das Prickeln ihrer wachsenden Zuneigung aufgelocke­rt, das er immer wieder dann verspürte, wenn Carlotta im Restaurant Dienst hatte und zu einem kurzen verstohlen­en Dialog an seinem Tisch verweilen konnte. Dabei wollte er ihre Beziehung nicht vorantreib­en. Es war ein Spiel mit Worten, ein Spiel, das auch sie manchmal mit dem Verweis auf andere Gäste abrupt beendete. Ob es ihr dabei zu heiß wurde oder ob er sie einfach überforder­te, war für ihn nur schwer zu erkennen.

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