Thüringer Allgemeine (Eisenach)
Wer kriegt den deutschen Impfstoff?
Das erste Serum gegen Covid-19 gilt als hochwirksam. Einige Staaten haben es längst bestellt – vor der EU
Von B. Angenendt, M. Hollstein, C. Kerl, T. Kisling, T. Martus, L. Rethy und M. Sanches
Berlin. Der erste Impfstoff gegen Covid-19 liegt vor, und Jens Spahn treibt eine Frage um: Als deutscher Gesundheitsminister könne er schwer erklären, „wenn in anderen Regionen der Welt ein in Deutschland produzierter Impfstoff schneller verimpft würde als in Deutschland selbst“. Die EU hat mit vielen Firmen Verträge abgeschlossen, aber zunächst nicht mit Biontech aus Mainz, dem Spitzenreiter im weltweiten Rennen um den ersten Impfstoff. Eilig versichert Eu-präsidentin Ursula von der Leyen am Dienstag, der Vertrag sei ausgehandelt und unterschriftsreif. Spahn hofft nun auf bis zu 100 Millionen Impfstoffdosen für Deutschland. Indes, mehrere Hundert Millionen Dosen sind vorab schon verkauft worden: an die USA, Japan und Kanada. Und der Partner von Biontech, der Pharmariese Pfizer, ist ein amerikanisches Unternehmen ...
Wofür wird Biontech gefeiert?
Der Impfstoff BNT162B2 ist fertig. Seine Wirksamkeit gegen Corona gibt Biontech-chef Ugur Sahin mit mehr als 90 Prozent an. Das sei „außergewöhnlich“. Er will jetzt die Zulassung in Europa und den USA beantragen. Im besten Fall könnte Mitte Dezember die Notfallzulassung der Us-pharmabehörde FDA erfolgen, sagte Sahin der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Er erwarte, in der ersten Jahreshälfte 2021 einen Großteil der Dosen für Europa und die USA liefern zu können. Sahins Plan war von Anfang an, einen Impfstoff in Rekordzeit zu entwickeln und schon 2021 mit Herstellung und Verteilung zu starten. Darum holte er Pfizer ins Boot. Die Amerikaner haben große Produktionsanlagen, übernahmen die Hälfte der Entwicklungskosten und verpflichteten sich nach Informationen des „Spiegel“, im Erfolgsfall weitere 748 Millionen zu zahlen. Es wird erwartet, dass sich beide Firmen die Einnahmen teilen werden. Bis Ende 2021 sollen 1,3 Milliarden Dosen produziert werden. Kein Wunder, dass das Unternehmen die Finanzmärkte in Goldgräberstimmung versetzt hat. Die Mainzer haben die adäquate Firmenadresse. Sie sitzen „An der Goldgrube 12“.
Wer steht hinter dem Erfolg? Entwickelt wurde BNT162B2 federführend von Sahin und seiner Frau Özlem Türeci. Beide haben das Unternehmen 2008 mit dem Wis
Im Labor von Biontech wird am neuen Impfstoff geforscht.
senschaftler Christoph Huber gegründet. Im Oktober 2019 ging Biontech an die Us-technologiebörse Nasdaq. Für 15 Us-dollar (12,72 Euro) wurden die ersten Wertpapiere ausgegeben. Der Bruttoerlös von 150 Millionen Dollar lag unter den Erwartungen. Fleiß und Leidenschaft machte die Einwandererkinder reich – und zu Hoffnungsträgern. An ihrem Hochzeitstag, erzählte Özlem Türeci einmal, standen sie und ihr Mann morgens noch im Labor. Von dort aus machten sie sich auf den Weg zur Trauung – und gingen dann zurück an die Arbeit.
Sahin kam mit vier Jahren nach Deutschland. Türeci ist hier geboren. Sie ist die Tochter eines türkischen Arztes, der sich im Raum Oldenburg in Niedersachsen niederließ. Mit einem Medizinstudium im Saarland tritt sie in seine Fußstapfen. Ugur Sahin wuchs in Köln auf, als Sohn eines Fabrikarbeiters. Als Kind interessieren ihn vor allem populärwissenschaftliche Bücher – sie wecken sein Forschungsinteresse. Nach dem Abitur studiert er Medizin in Köln. Özlem Türeci lernt er als junger Arzt kennen, am Universitätsklinikum in Homburg im Saarland. Beide bewegt die Frage, wie man Krebs heilen kann. Um daran zu forschen, gehen sie an die Universität Mainz, wo Sahin bis heute Professor und Türeci Privatdozentin ist. Weil ihnen wissenschaftliche Ergebnisse nicht schnell genug in der Versorgung der Patienten ankommen, gründen Sahin und Türeci 2001 ihr erstes Unternehmen, Ganymed Pharmaceuticals, das 2016 für mehr als 400 Millionen Euro verkauft wird. 2008 folgt die Gründung von Biontech. Das Ziel sei nicht weniger als eine „Revolution“der Krebstherapie, so Sahin. Doch in der Corona-pandemie ist klar: Krebs muss warten.
Hat die EU geschlafen?
Plötzlich geht alles ganz schnell. Am Mittag kommt von der EUKommission die Meldung, der Ver
Die Forscher Ugur Sahin (l.) und Özlem Türeci. Beide gründeten Biontech und leiten das Unternehmen nun.
trag zur Lieferung des Impfstoffs sei fertig ausgehandelt. Von der Leyen kündigt an, „morgen genehmigen wir einen Vertrag über bis zu 300 Millionen Dosen“. Zusammen würde das für 150 Millionen Menschen reichen (zwei Impfungen), etwa ein Drittel der Eu-bevölkerung. Die Verträge sind geheim, der Kaufpreis unbekannt. „Dies ist der vierte Vertrag mit einem Pharmaunternehmen über den Kauf von Impfstoffen. Und es wird noch mehr kommen. Weil wir ein breites Portfolio an Impfstoffen brauchen, die auf verschiedenen Technologien basieren.“Deutschland ist doppelt abgesichert: Nicht nur über den EU-VERtrag hat es Anspruch auf Impfdosen. Weil es sich um deutsche Firmen handelt, unterstützt das Bundesforschungsministerium Biontech sowie Curevac und das Dessauer Unternehmen IDT Biologika bei der Entwicklung eines Impfstoffs mit 150 Millionen Euro. Im Gegenzug haben sich die Firmen verpflichtet, im Erfolgsfall Deutschland mehrere zehn Millionen Dosen Impfstoff zur Verfügung zu stellen.
Welche Impfstoffe sind im Rennen? Weltweit laufen laut Weltgesundheitsorganisation mehr als 200 Impfstoffprojekte. Davon befinden sich nach Angaben des Verbands forschender Arzneimittelunternehmen (vfa) neben dem Präparat von Biontech/pfizer neun weitere Kandidaten in der dritten und letzten Studienphase vor einer möglichen Zulassung. Darunter ein Vakzin der Universität Oxford und des Pharmaunternehmens Astrazeneca.
Wie lange dauert es, bis die Bevölkerung geimpft ist?
Der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission, Thomas Mertens, rechnete in der „Zeit“vor: Würden täglich 100.000 Menschen geimpft werden, wären nach 150 Tagen erst 15 Millionen Bürger geschützt. Um 60 Prozent zu impfen, könnte es ein, zwei Jahre dauern.