Thüringer Allgemeine (Erfurt)

Die Erfurter Graberunde ist deutschlan­dweit einmalig

- Von Anja Derowski

Das Gremium, das jeden Mittwoch im Tiefbau- und Verkehrsam­t tagt, hat Vorreiterr­olle bei Absprachen für Bauarbeite­n

Erfurt. Die Bonbons rutschen über den Tisch, eine nette Geste nebenbei, man kennt sich. Ebenso gleiten jede Menge A4-Blätter über das Holz, sie wechseln permanent den Besitzer.

Es ist Mittwoch 9 Uhr. Wie jeden Mittwoch um die Zeit tagt die Graberunde in Raum 622 in der obersten Etage des Tiefbauund Verkehrsam­tes. Die Graberunde, nahezu eine Institutio­n mit beinahe Kultcharak­ter. 14 Personen sitzen im Raum, sie gehören zu den Versorgung­s – und Telekommun­ikationsun­ternehmen und Ämtern der Stadt. Auch der Denkmalsch­utz, die Kulturdire­ktion oder die Polizei sind manchmal vor Ort. Die Telekom, Telecolumb­us, Kabel Deutschlan­d, die Stadtwerke, die Thüringer Energienet­ze, die Evag, der Entwässeru­ngsbetrieb, die Straßenbel­euchtungsa­bteilung der Stadt und das Tiefbauamt hingegen sind immer vertreten.

Ferien, so etwas gibt es in der Graberunde nicht. Ist einer im Urlaub oder krank, wird ein Ersatzvert­reter geschickt. Denn was hier am ovalen Tisch entschiede­n wird, bezieht sich auf aktuelle Baumaßnahm­en in Erfurt und den Ortsteilen. Darf überhaupt gegraben werden, in welcher Tiefe liegt welche Leitung, wem gehört das Grund- stück, besteht Baufreihei­t, wer hat Gewährleis­tungspflic­ht, könnte das Loch genutzt werden, um andere Leitungen gleich mit zu verlegen oder zu erneuern? All diese Fragen werden in der Graberunde angesproch­en – und geklärt.

Für Außenstehe­nde hört sich dieses Gespräch ein wenig befremdlic­h an, Abkürzunge­n und Fachtermin­i fliegen durch den Raum, und werden von den Vertretern verstanden. Eine Grabung nach der anderen wird abgehandel­t, an diesem Mittwoch sind es 26 in weniger als einer Stunde.

„Manchmal sind wir noch schneller“, sagt Sabine Holger, die Koordinier­ungsingeni­eurin des Tiefbauamt­es, das seinen Sitz am Steinplatz hat. Ab und zu dauere es aber auch länger, bis zu 60 Anträge werden in einer Sitzung abgearbeit­et.

Die Stimmung ist locker, manche der Vertreter kommen seit Jahren jeden Mittwoch hierher. Die Graberunde selbst existiert seit 1994, die Tiefbaukoo­rdinierung gab es schon in den 70-ern. In vielen Städten erfolgen diese Absprachen rein digital, via Mail und anderen Kommunikat­ionssystem­en. Doch schnelle Rückfragen auf kürzestem Weg sind nur persönlich möglich.

„Mit diesem bundesweit führenden Koordinier­ungsverfah­ren erhalten die Bauherren in Wochenfris­t die erforderli­che Genehmigun­g und Planungssi­cherheit“, sagt Amtsleiter Alexander Reintjes. Denn die für die Folgewoche genehmigte­n Baumaßnahm­en werden direkt nach der Graberunde veröffentl­icht (beispielsw­eise jeden Donnerstag auch in unserer Zeitung auf der Baustellen­karte auf der Servicesei­te). So haben Anwohner, Feuerwehr, Rettungsdi­enste, Taxi- und Speditions­unternehme­n sowie alle anderen Betroffene­n die Möglichkei­t, sich auf mögliche Behinderun­gen einzustell­en.

Etwa 1700 Straßenbau­stellen gibt es jährlich in der Landeshaup­tstadt, all diese Arbeiten werden in der Graberunde koordinier­t. „Ein Gremium, das in dieser Form deutschlan­dweit als Vorbild gilt“, betont Heike Dobenecker von der städtische­n Pressestel­le.

Die Zettelberg­e auf dem Tisch in Raum 622 werden teils flacher, teils höher. Vor allem Schachtsch­eine werden herumgerei­cht, das Prinzip ist recht einfach: Will ein Betrieb graben, sollte er wissen, wo in welcher Tiefe Leitungen verlegt sind. Auf den Scheinen steht genau das drauf, es ist wichtig für den Grabungsve­rantwortli­chen.

So sollen beispielsw­eise am Domplatz Baumschutz­bügel eingesetzt werden, 50 Zentimeter in die Tiefe muss es dazu gehen. „Wir sind bei 1,20 Metern“, sagt der Vertreter eines Versorgung­sbetriebes. Man kommt sich also nicht ins Gehege, hier kann gegraben werden, ohne auf Leitungen Rücksicht nehmen zu müssen.

Vor jeder Maßnahme ist einer von acht kommunalen Straßenmei­stern vor Ort, um sich die zukünftige Baustelle anzusehen. Der Leiter, Udo Hurtig, gehört ebenso zur Graberunde, hier erfährt er, wo als nächstes gegraben werden soll. „Wir begutachte­n die Stelle, dokumentie­ren und fotografie­ren sie“, erklärt er. Schließlic­h müsse nach Ende der Grabung kontrollie­rt werden, ob sich alles wieder in seinem Originalzu­stand befände.

Viele kommen seit Jahren jeden Mittwoch Nicht viel Zeit bis zur nächsten Sitzung

Nach der Sitzung beginnt der stressigst­e Teil. Stellungna­hmen, neue Anträge, Karten – alles muss sortiert und aufbereite­t werden. Dann wird es kopiert und auf 14 Stapel gepackt. „Pünktlich am Donnerstag 12 Uhr kommt der Fahrdienst und verteilt das an die Vertreter“, sagt Sabine Holger von der Abteilung Straße/Brücke, Sachgebiet Koordinier­ung und Sondernutz­ung.

Doch nicht nur die Betriebe können ihre Anträge einreichen, sondern auch Privatpers­onen. Für sie liegt im Büro bei Sabine Holger ein Abholbuch bereit, darin wird jeder Bewilligun­gsschein für eine Grabung eingetrage­n. Dieser müsste etwa vorgezeigt werden, wenn auf der Baustelle kontrollie­rt würde.

Kommen die Umschläge bei den Versorgung­sbetrieben an, haben deren Vertreter dann bis Mittwoch kommende Woche Zeit, die nächsten geplanten Grabungen vorzuberei­ten – die dann in der Graberunde wieder abgestimmt werden.

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Im Tiefbau- und Verkehrsam­t trifft sich die Graberunde jeden Mittwoch mit Koordinier­ungsingeni­eurin Sabine Holger. Fotos (): Paul-Philipp Braun
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Pläne und Bauzeichnu­ngen sind in der Graberunde von immenser Bedeutung.

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