„Immer so durchgeschummelt“
Schätzungsweise 200 000 Analphabeten gibt es in Thüringen. Trotz ständiger Angst vor Entdeckung dauert es oft lange, bis Betroffene Hilfe suchen
Erfurt. Fahrpläne, Medikamenten-Beipackzettel oder schriftliche Arbeitsanweisungen sind für Marietta Bauer* bis heute eine tägliche Herausforderung. Dass sie noch immer nicht richtig lesen und schreiben kann, soll niemand erfahren. „Noch nicht mal meine Mutter, meine Kinder oder mein Mann wissen davon“, sagt die über 40-Jährige, die ihren Namen daher auch nicht nennen möchte. Ob Schule, Arbeit oder Ämter: „Ich habe mich immer so durchgeschummelt, ohne dass jemand was gemerkt hat“, sagt sie. „Meist habe ich gesagt, dass ich meine Brille vergessen hätte, wenn es darum ging, etwas auszufüllen.“
Diese Ausrede kennen Experten wie Angelika Mede, Fachreferentin für Alphabetisierung und Grundbildung im Thüringer Volkshochschulverband, nur allzu gut. In Thüringen gibt es Schätzungen zufolge 200 000 „funktionale Analphabeten“, die zwar eine Schule besucht, aus den unterschiedlichsten Gründen aber nie richtig Lesen und Schreiben gelernt haben.
Etwa 7,5 Millionen der 18- bis 64-Jährigen sind nach einer Studie aus dem Jahr 2011 in Deutschland betroffen. Viel habe sich an der Zahl nicht geändert, schätzt Mede. Bevor Bauer vor etwa drei Jahren beschloss, endlich etwas zu ändern, konnte sie nur einzelne Buchstaben und einfache Wörter wie „Haus“ oder „Maus“erkennen. Bei zusammengesetzten Wörtern und Buchstabenfolgen war dann aber Schluss. Seit die Mutter von sieben Kindern an der Erfurter Volkshochschule schreiben und lesen lernt, ändert sich das. „Ich habe schon gute Fortschritte gemacht - und ich mache so lange weiter wie es geht.“
Doch wie kommt man in der Gesellschaft überhaupt ohne Lesen und Schreiben zurecht? Oft hätten Analphabeten ein überdurchschnittliches Bildergedächtnis, mit dem auch Buchstabenreihen bildlich auswendig gelernt würden, sagt der Leiter der Erfurter Volkskochschule, Torsten Haß. Beruflich kämen die Betroffenen etwa im Gartenbau, der Logistik und in einfachen Berufen unter, in denen vor allem „Handarbeit“gefragt sei. „Ehrlich gesagt ist es mir als früherem Grundschullehrer aber manchmal immer noch ein Rätsel, wie sich die Menschen ohne Lesen und Schreiben durchmogeln können.“Vor allem, wenn sich der Chef eines mittelständischen Unternehmens irgendwann als Analphabeten oute. Meist hätten die Betroffenen einen Verbündeten in der Familie, erklärt Mede. „Eine einzelne Vertrauensperson, die das Geheimnis kennt und beim Schreiben und Lesen hilft.“
Rund 400 bis 500 Analphabeten finden jedes Jahr den Weg in einen Kurs an einer der 23 Thüringer Volkshochschulen. 2010 gab es einen Anstieg um rund 40 Prozent. Seitdem seien die Zahlen etwa stabil, erklärt die Referentin. Dank Fördermitteln, die über das Land ausgezahlt wer- den, könnten die VHS-Kurse nun kostenlos angeboten werden. Manche Einrichtungen verlangten einen symbolischen Beitrag - weil oft nicht geschätzt werde, was nichts koste, sagt Mede. Auch für Bauer, die nach ihrem Schulabschluss und den Arbeitsunterbrechungen durch die Schwangerschaften immer als Reinigungskraft gearbeitet hat, seien die Kursgebühren immer das größte Hindernis gewesen. „Ich bin froh, dass das jetzt möglich ist.“Analphabeten aus ihrer Isolation zu befreien, bleibe trotzdem schwierig, sagt Haß.
Zunächst müssten die Betroffenen sich selbst eingestehen, dass sie ein Problem hätten und sich dann aufraffen, es anzugehen. Für aufmerksame Arbeitskollegen oder Freunde sei es oft schwierig, das Thema anzusprechen, ohne den anderen vor den Kopf zu stoßen. Im Freistaat soll das „Thüringer Bündnis für Alphabetisierung und Grundbildung“in solchen Situationen helfen. Inzwischen gibt es Mede zufolge über 70 Partner in dem Netzwerk. So sollen Sensibilisierungskurse dazu beitragen, Analphabetismus zu erkennen und den Menschen zu helfen. „Dabei wenden wir uns an verschiedene Stellen wie Jobcenter, Schuldnerberatungen oder auch Ärzte.“Bei Unternehmen sei die Kooperation schwieriger. Manche Chefs fühlten sich dafür nicht zuständig oder wollten keine Zusammenarbeit. dpa
* Der Name wurde geändert