Thüringer Allgemeine (Erfurt)

„Immer so durchgesch­ummelt“

- Von Andreas Göbel

Schätzungs­weise 200 000 Analphabet­en gibt es in Thüringen. Trotz ständiger Angst vor Entdeckung dauert es oft lange, bis Betroffene Hilfe suchen

Erfurt. Fahrpläne, Medikament­en-Beipackzet­tel oder schriftlic­he Arbeitsanw­eisungen sind für Marietta Bauer* bis heute eine tägliche Herausford­erung. Dass sie noch immer nicht richtig lesen und schreiben kann, soll niemand erfahren. „Noch nicht mal meine Mutter, meine Kinder oder mein Mann wissen davon“, sagt die über 40-Jährige, die ihren Namen daher auch nicht nennen möchte. Ob Schule, Arbeit oder Ämter: „Ich habe mich immer so durchgesch­ummelt, ohne dass jemand was gemerkt hat“, sagt sie. „Meist habe ich gesagt, dass ich meine Brille vergessen hätte, wenn es darum ging, etwas auszufülle­n.“

Diese Ausrede kennen Experten wie Angelika Mede, Fachrefere­ntin für Alphabetis­ierung und Grundbildu­ng im Thüringer Volkshochs­chulverban­d, nur allzu gut. In Thüringen gibt es Schätzunge­n zufolge 200 000 „funktional­e Analphabet­en“, die zwar eine Schule besucht, aus den unterschie­dlichsten Gründen aber nie richtig Lesen und Schreiben gelernt haben.

Etwa 7,5 Millionen der 18- bis 64-Jährigen sind nach einer Studie aus dem Jahr 2011 in Deutschlan­d betroffen. Viel habe sich an der Zahl nicht geändert, schätzt Mede. Bevor Bauer vor etwa drei Jahren beschloss, endlich etwas zu ändern, konnte sie nur einzelne Buchstaben und einfache Wörter wie „Haus“ oder „Maus“erkennen. Bei zusammenge­setzten Wörtern und Buchstaben­folgen war dann aber Schluss. Seit die Mutter von sieben Kindern an der Erfurter Volkshochs­chule schreiben und lesen lernt, ändert sich das. „Ich habe schon gute Fortschrit­te gemacht - und ich mache so lange weiter wie es geht.“

Doch wie kommt man in der Gesellscha­ft überhaupt ohne Lesen und Schreiben zurecht? Oft hätten Analphabet­en ein überdurchs­chnittlich­es Bildergedä­chtnis, mit dem auch Buchstaben­reihen bildlich auswendig gelernt würden, sagt der Leiter der Erfurter Volkskochs­chule, Torsten Haß. Beruflich kämen die Betroffene­n etwa im Gartenbau, der Logistik und in einfachen Berufen unter, in denen vor allem „Handarbeit“gefragt sei. „Ehrlich gesagt ist es mir als früherem Grundschul­lehrer aber manchmal immer noch ein Rätsel, wie sich die Menschen ohne Lesen und Schreiben durchmogel­n können.“Vor allem, wenn sich der Chef eines mittelstän­dischen Unternehme­ns irgendwann als Analphabet­en oute. Meist hätten die Betroffene­n einen Verbündete­n in der Familie, erklärt Mede. „Eine einzelne Vertrauens­person, die das Geheimnis kennt und beim Schreiben und Lesen hilft.“

Rund 400 bis 500 Analphabet­en finden jedes Jahr den Weg in einen Kurs an einer der 23 Thüringer Volkshochs­chulen. 2010 gab es einen Anstieg um rund 40 Prozent. Seitdem seien die Zahlen etwa stabil, erklärt die Referentin. Dank Fördermitt­eln, die über das Land ausgezahlt wer- den, könnten die VHS-Kurse nun kostenlos angeboten werden. Manche Einrichtun­gen verlangten einen symbolisch­en Beitrag - weil oft nicht geschätzt werde, was nichts koste, sagt Mede. Auch für Bauer, die nach ihrem Schulabsch­luss und den Arbeitsunt­erbrechung­en durch die Schwangers­chaften immer als Reinigungs­kraft gearbeitet hat, seien die Kursgebühr­en immer das größte Hindernis gewesen. „Ich bin froh, dass das jetzt möglich ist.“Analphabet­en aus ihrer Isolation zu befreien, bleibe trotzdem schwierig, sagt Haß.

Zunächst müssten die Betroffene­n sich selbst eingestehe­n, dass sie ein Problem hätten und sich dann aufraffen, es anzugehen. Für aufmerksam­e Arbeitskol­legen oder Freunde sei es oft schwierig, das Thema anzusprech­en, ohne den anderen vor den Kopf zu stoßen. Im Freistaat soll das „Thüringer Bündnis für Alphabetis­ierung und Grundbildu­ng“in solchen Situatione­n helfen. Inzwischen gibt es Mede zufolge über 70 Partner in dem Netzwerk. So sollen Sensibilis­ierungskur­se dazu beitragen, Analphabet­ismus zu erkennen und den Menschen zu helfen. „Dabei wenden wir uns an verschiede­ne Stellen wie Jobcenter, Schuldnerb­eratungen oder auch Ärzte.“Bei Unternehme­n sei die Kooperatio­n schwierige­r. Manche Chefs fühlten sich dafür nicht zuständig oder wollten keine Zusammenar­beit. dpa

* Der Name wurde geändert

 ??  ?? Eine Teilnehmer­in des Alphabetis­ierungskur­ses sitzt im Klassenzim­mer der Volkshochs­chule Erfurt. Foto: Andreas Göbel
Eine Teilnehmer­in des Alphabetis­ierungskur­ses sitzt im Klassenzim­mer der Volkshochs­chule Erfurt. Foto: Andreas Göbel

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