…was nicht sein darf
Er hatte genau das richtige Hinterrad. Aber er war im falschen Rennen, denn es war die Weltmeisterschaft auf dem Sachsenring. Und der Mann vor ihm war GustavAdolf Schur, den Millionen Täve nannten und der die beiden vorangegangenen Welttitel gewonnen hatte. Und er würde heute einen Jahrhundertrekord festschreiben, den HatTrick, wenn er gewann. Wie sollte er da nicht gewinnen wollen? Als Bernhard Eckstein antrat, hielt Willy Vanderberghen das für einen taktischen Trick und blieb bei Schur, am richtigen Hinterrad, das heute das falsche war. Als der Belgier das merkte, da war es zu spät, Bernhard Eckstein wurde an diesem Tag zum Weltmeister gekrönt und Gustav-Adolf Schur zur Legende. Es war der 13. August 1960. Was an diesem Tag geschah, ist im kollektiven Gedächtnis von Millionen DDR-Bewohnern so aufgehoben wie das, was genau ein Jahr später geschah im Gedächtnis der Welt. Und die Frage ist, ob Deutschland einen Mann ehren darf, der sich nie von dem Staat distanzierte, der den 13. August 1961 verantwortet. Es ist die Adorno-Frage, ob es ein richtiges Leben im falschen gibt.
Gustav-Adolf Schur begann seine Karriere zu einer Zeit, als Rennräder noch mit Luftpumpen versehen waren. Er trainierte mit einem Tourenrad gegen den Bus in einem Alter, da mindere Talente später bereits in Leistungszentren von Psychologen betreut wurden. Er fuhr als Neunzehnjähriger mit dem Rad von Magdeburg nach Halle, da war jemand, der hatte Rennpedalen zum Tauschen. Und als er schon das eine oder andere Rennen gewonnen hatte, da schlief er manchmal ein: Am nächsten Tag, im Betrieb.
Irgendwie hat sich das nie verloren bei dem Mann. Wenn es einen OstStar gibt, auf den der propagandapopuläre Adelstitel „Arbeiterjunge“ stimmte, dann war es dieser. Einen nur gibt es, der sich gegen allen Rummel so wie Täve zu behaupten wusste, Siegmund Jähn. Schur war wohl, in den frühen Jahren, so, wie man sich das Land gern gedacht hätte, gut und bescheiden, respektabel und redlich. „Unser Täve“war redlicher als „unsere Republik“. Die Projektion eines Landes auf einen Menschen, der Arbeiterjunge, mit dem sich Staat machen ließ.
Und der sich nie von diesem Staat distanziert hat, bis heute, er ist jetzt 86. Nun sollte er im zweiten Anlauf aufgenommen werden in die Hall of Fame des deutschen Sports, das wurde 2011 schon einmal abgelehnt. Und ist jetzt Gegenstand einer Kontroverse. Ines Geipel, Vorsitzende der Doping-Opfer-Hilfe, sagte, es „beschädigt die FairPlay-Sportler, die schon drin sind“, und, nach einem wenig glücklichen, aber irgendwie altersgerechten Interview im „Neuen Deutschland“, in dem er den DDR-Sport „nicht kriminell“nannte, ergänzte sie, dann könne man ja auch gleich den Stasi-Chef Mielke aufnehmen.
Ines Geipel hatte ein Buch geschrieben über den Amoklauf 2002 in Erfurt. Die Rezensenten der überregionalen Blätter fanden darin „Maßlose Züge“, sahen einen „verständlichen Hass, nur verstellt er … den Blick“. Der Autor schrieb damals, ihr dienten „Tatsachen primär zur Bestätigung ihres fertigen Weltbildes, was sie dazu verführt, eine thüringisch-ostdeutsche Kontinuität der Verdrängungskultur herzustellen, die den Umgang mit Buchenwald, dem Jenenser Euthanasieskandal und dem Gutenberg-Massaker umfasst. Dieses eifernde Interpretieren ist als Denken wie als Literatur langweilig.“
Und ist jetzt nicht anders. Schließlich, Katharina Witt etwa ist auch in der Ruhmeshalle und war doch „das schönste Gesicht des Sozialismus“. Aber Schur ist der DDR-Sportler schlechthin, er verkörpert tatsächlich das Ideal des reinen, fairen und nicht kommerziell orientierten Sportlers. Er konnte das, weil die Zeiten anders waren und weil er, neben dem Talent, auch den Charakter dazu hatte. Und das darf nicht sein, aus Gründen der Ideologie. Nichts, gar nichts aus der DDR darf als ehrenwert gelten. Nicht einmal dieser Mann, der eine persönliche Integrität lebt und sich nicht distanziert, der gleich gar nicht.
Darf er nicht?
Eine Ruhmeshalle des deutschen Sports, in der auch, versehen mit entsprechenden Erläuterungen über ihre Zeit in Nazi-Deutschland, Willi Daume und Josef Neckermann rechtens ihren Platz haben, kann nicht absehen von deutscher Geschichte, kann nicht den Sport und seine Helden präsentieren ohne seinen gesellschaftlichen Kontext. Das gilt auch für Täve Schur, denn eine solche Hall of Fame muss zugleich eine Hall of History sein. Er würde die Halle nicht beschädigen: Sie wäre, auch in ihrer gesellschaftlich-aufklärenden Funktion, beschädigt ohne ihn.
Ines Geipel ist 56 Jahre, GustavAdolf Schur 86. Seinen Namen wird man noch kennen, wenn niemand mehr weiß, wer Ines Geipel war.