Henriette und das Fernweh
Bei meiner Lesung in Tiefthal stellt Ingrid Annel mich auf ungewöhnliche Art vor: Sie zückt ihr Handy, blendet drei chinesische Zeichen ein und geht damit zum Publikum. „Kann jemand das vorlesen?“Allgemeines Kopfschütteln. Doch dann erhebt eine hübsche Frau mitten im Publikum ihre Stimme: „Luo Lingyuan“. Sogar das Wort „Yuan“, das sämtliche deutschen Fernseh- und Rundfunksprecher mit Inbrunst verhunzen, wenn sie über die chinesische Währung reden, spricht die junge Frau flott und korrekt aus:
„Jön“. „Wow, Sie sprechen ja wie eine Chinesin“, sage ich, und das Publikum klatscht zufrieden. Nach der Lesung kommt die blonde Frau zu mir und sagt, sie habe vor Jahren meinen Roman „Wie eine Chinesin schwanger wird“gelesen und sei sehr vergnügt gewesen. Als
Dank schenkt sie mir eine Sonnenblume, und ein persönlicher Brief ist auch dabei. Ich bin gerührt. So lerne ich in Erfurt eine Deutsche kennen, die perfekt Chinesisch spricht und so warmherzig wie eine Chinesin ist.
Beim nächsten Treffen sitze ich bei ihr in der Küche und erfahre mehr von ihr: Sie stammt aus Sachsen. Als Jugendliche hatte sie Fernweh und träumte davon, weit weg von Zuhause zu leben. Sie lernte Chinesisch in der Volkshochschule und studierte anschließend Wirtschaftschinesisch in Bremen, Chengdu und Peking. Inzwischen ist sie unersetzlich für ihren Arbeitgeber und kann kaum noch weg. Seit fünfzehn Jahren lebt sie im Norden von Erfurt und ist sehr zufrieden damit. Aber China kann sie trotzdem nicht ganz vergessen. Vor drei Jahren hat sie Urlaub im Land der Mitte gemacht – und gleich mit der ganzen Familie. Seither träumt ihr älterer Sohn davon, Stadtschreiber von Peking zu werden. Und der Jüngere möchte auch wieder nach China. Das Fernweh ist weiter lebendig.