Geistiger Hunger nie zu stillen
Hans Jochen Genthe wird heute 90 Jahre alt. Langjähriger Pfarrer der Kaufmannsgemeinde wohnt wieder in Erfurt
Erfurt. Die Umzugskartons sind fast alle ausgepackt. „Es hängt aber noch kein Bild an der Wand“, sagt Dr. Hans Jochen Genthe – und lächelt. Drei Jahrzehnte lang war er Pfarrer der Kaufmannsgemeinde, lebte dann ein Vierteljahrhundert in Eschwege. Wenige Tage vor seinem 90. Geburtstag ist der gebürtige Mühlhäuser zurückgekommen nach Thüringen. Er lebt jetzt in einer Parterrewohnung des Diakonie-Quartiershauses auf dem Ringelberg.
Heute – am 27. Juli – begeht er sein Jubiläum. Im Melanchthonhaus richten der Evangelische Kirchenkreis und seine Kaufmannsgemeinde ihm zu Ehren einen Geburtstagsempfang aus.
Physisch fühlt er sich bereits angekommen in Erfurt, wo er nicht nur als Pfarrer, sondern auch als protestantischer Bildungsmensch und Erwachsenenlehrer aktiv war, wie es sein Weggefährte Dr. Aribert Rothe formuliert, auch noch als Pensionär an der Volkshochschule in Eschwege und Erfurt. Und in der Wendezeit muss sich Genthe eine aktive Rolle bei den politischen Veränderungen im Herbst 1989 zuschreiben lassen. Allmählich gelingt das Ankommen seiner Ansicht nach auch psychisch.
Von der alten Regel, Pastoren sollten im Ruhestand nicht in ihren einstigen Pfarrgemeinden wohnen, weil sie sich sonst über ihre Nachfolger ärgern würden, erzählt er. Nimmt sie aber nicht für sich in Anspruch: „Mich schreckt wenig, die Regel auch nicht“, sagt er. Sein Sohn entdeckte die Wohnung auf dem Ringelberg. „Er hat meistens sehr gute Ideen“, weiß Genthe. Und das gilt auch in diesem Fall. „Alles bestens“, sagt er über seine Rückkehr nach Erfurt. Einzig der Tod seiner Frau vor zwei Jahren bedrückt ihn. „Sie fehlt.“
Der Ringelberg gehörte zu seinem Bereich. Von der Marienhöhe bis zum Leipziger Platz reichte der, als die Kaufmannsgemeinde noch drei Pfarrstellen besaß. „Aber der Ringelberg war damals ein ganz anderer“, meint er und blickt aus dem Wohnzimmerfenster. So viel wurde gebaut. Immerhin kennt er Quartiersmanagerin Uta Aßmann von der Begegnungsstätte nebenan. Er hat sie als Dozent an der Predigerschule unterrichtet.
Aktive Rolle im Wendeherbst
Bildung war ihm immer Herzensanliegen. Auch im Ruhestand rastet er nicht. „Solange das hier noch mitspielt, werde ich weiter alte Schriften übersetzen“, verspricht er, während er sich mit dem Zeigefinger an den Kopf tippt. Sein Sohn, der auch ihm sehr viele organisatorische Sachen abnehme, sorge dafür, dass die Übersetzungen auf seiner Webseite bibelbuch.de nachgelesen werden können.
„Der geistige Hunger, einmal geweckt, war groß, und Genthe kriegte man nicht satt“, sagt Rothe, verweist auf die anspruchsvolle Reihe der Kaufmänner-Gemeindeseminare, die Genthe 1969 ins Leben rief. Die „Erfurter Vorträge“gibt es bis heute. „Genthe war halb Gemeindepfarrer, halb Dozent für Neues Testament an der Predigerschule“, so Rothe. Die Seminare beinhalten eine breite Palette von biblischen, kirchenkunstgeschichtlichen und kirchensoziologischen Fragen.
Der Jubilar hingegen singt ein Loblied auf seine Kaufmannsgemeinde: „Ich hatte eine sehr aktive Gemeinde.“Galt es etwa, handfest anzupacken, waren mehr Leute zur Stelle als benötigt. Selbst wenn es um die regelmäßige Säuberung der Türme vom Taubendreck ging. „Unten warteten schon die Kleingärtner auf die gefüllten Säcke, erinnert er sich. Von seinen bildungspolitischen Umtrieben berichtet Genthe gern. Seine aktive Rolle zur Wende sprach Thomas Austel an, der ebenfalls Pfarrer der Kaufmannsgemeinde war.
„Zum 40. Jahrestag stand bei uns ein Gottesdienst an. Da mussten wir was unternehmen“, begründet Genthe sein Engagement. Dass die Predigt, die er hielt, nicht zum Gefallen der Staatssicherheit ausfiel, aber die Kirche so voll war, dass der gleiche Gottesdienst zweimal hintereinander gefeiert wurde, war eine Sache. Übel nahm man Genthe jedoch das damals extrem umständliche Vervielfältigen einer Erklärung Eppelmanns und anderer Kirchenleute zur Abrüstung in der DDR. Zwei Herren klingelten und begleiteten ihn in die Andreasstraße. „Ich war zuversichtlich, dass ich am gleichen Tag wieder gehen dürfte, aber meine Frau hat gleich den Senior und den Propst informiert“, so Genthe. Wer ihn verraten hat, weiß er erst, seit er seine StasiAkten einsehen konnte. Ernsthafte Folgen habe sein Verhör nicht gehabt, aber aufwendige. Er sollte sämtliche verteilten Zettel innerhalb von fünf Tagen einsammeln. „Ganz hab’ ich das nicht geschafft, aber noch ein paar neue hektografiert, damit die Menge ungefähr stimmt.“