Die Partei als Ego-vehikel
Es
war im Januar des Jahres 2002, als Jürgen Möllemann die Thüringer FDP retten wollte. Er reiste ins verschneite Stadtroda bei Jena, um seinem Parteifreund, dem Landesvorsitzenden Andreas Kniepert, zur Spitzenkandidatur für die anstehende Bundestagswahl zu verhelfen – anstelle von Karlheinz Guttmacher, dem langjährigen und einzigen Abgeordneten der Landespartei in Berlin.
Der Stimmung im örtlichen Volkshaus war, um es zurückhaltend auszudrücken: explosiv. Mehrere Vorstandsmitglieder hatten an Eides statt behauptet, dass es den geheimen Plan in der Führung gegeben habe, internen Gegnern Schmuddelkram auf deren Computer zu überspielen, um sie dann damit bloßzustellen. Dank der sogenannten Pornoaffäre war die kleine Landespartei endgültig zerrüttet. Schon bei der Wahl im Jahr 1999 hatte sie nur 1,1 Prozent erhalten, nachdem ihr damaliger Vorsitzender zur Stimmabgabe für die CDU aufgerufen hatte.
Aber nun sollte es ja Möllemann richten, der Profi für Comebacks. Er, der einst nach einer dummen Affäre als Bundeswirtschaftsminister zurücktreten musste, hatte später seine Landespartei in Nordrhein-westfalen zu Rekordergebnissen geführt. Also schrie er sich in Stadtroda das Gesicht rot und fantasierte von 18-Prozent-wahlergebnissen. Die Delegierten feierten ihn – und wählten Kniepert trotzdem nicht. Danach begann eine Art politische Saalschlacht und Möllemann machte sich eilig davon. Ein Jahr und mehrere Affären später verstieß ihn die Partei, die Staatsanwaltschaft ermittelte. Der tragische Rest der Geschichte ist bekannt.
Aber bei der FDP, so scheint es, ist das übliche Auf und Ab der Politik eben besonders stark ausgeprägt. Dabei gilt: Je schneller es hinauf geht, umso rasanter geht es auch wieder herunter. Bei der Bundestagswahl 2009 etwa feierte die Partei mit 14,6 Prozent ihren größten Triumph, nur um 2013 erstmals aus dem Parlament zu fliegen.
In Thüringen hatte sich 1990 die Partei aus zwei alten Blockparteien gebildet und ein paar Neumitglieder nach vorne gestellt – und es nicht nur in den Landtag, sondern sogar die Landesregierung geschafft. Doch die Zeit im Kabinett war kurz, 1994 war die Partei mit 3,2 Prozent entmachtet. Gut 15 Jahre währte die außerparlamentarische Opposition, bis die FDP synchron zum Bund ihr Bestergebnis erzielte, in den Landtag zurückkehrte – und fast ebenso synchron 2014 wieder ausschied.
Danach schien, wie schon nach dem Rauswurf 1994, das Chaos zu beginnen. Der Landeschef trat zurück, seine Nachfolgerin hielt nur ein Jahr durch, bis sie von Thomas Kemmerich verdrängt wurde, einem erfolgreichen Unternehmer, Chefkarnevalisten und Großmacho, der jedoch in seinen fünf parlamentarischen Jahren vor allem wegen seiner Cowboystiefel und einer misslichen Steuerangelegenheit aufgefallen war.
Aber dann geschah etwas, was selbst viele Liberale erstaunte: Kemmerich schaffte den Neuanfang. Er vereinte die Thüringer FDP zumindest nach außen hin und stellte sie inhaltlich als Mittelstandspartei mit digitaler Bildungskompetenz auf. Auf den Podien mit anderen Spitzenkandidaten hielt er nicht bloß mit, sondern wirkte argumentativ und persönlich überzeugender als Teile der Konkurrenz. Und die Cowboystiefel wirkten plötzlich nicht mehr albern, sondern selbstironisch-cool.
Selbst Kemmerichs Gegner geben zu: Dass er seine Partei trotz eines miesen Bundestrends knappmöglichst in den Landtag bugsieren konnte, ist sein Verdienst. Dumm nur, dass er all dies im vergangenen Februar in einer fatalen Mischung aus Fahrlässigkeit, Übermut und Kalkül verspielte, als er sich von der AFD zum Ministerpräsidenten wählen ließ und danach das Amt annahm. Seitdem mag er nicht verstehen, dass er dafür die Hauptverantwortung trägt – und seine Karriere vorbei ist. Sein Tweet, in dem er bei allen den Fehler sah, nur nicht bei sich selbst, war der vorerst letzte Beleg dafür.
Thomas Kemmerich fühlt sich als Opfer des politischen Gegners, der Medien und seiner Bundespartei, die ihn nunmehr offiziell zum Paria erklärt hat. Dabei ist es genau andersherum: Indem er an seiner Restmacht festhält, benutzt er die Thüringer FDP als Vehikel seines gekränkten Egos. Er macht sie zu seinem Opfer.