Thüringer Allgemeine (Erfurt)

Corona beflügelt Reichsbürg­er-szene

Bundesinne­nministeri­um warnt vor weiterer Radikalisi­erung der Bewegung – Terrorabwe­hr schaltet sich ein

- Von Miguel Sanches

Berlin. Die sogenannte­n Reichsbürg­er und Selbstverw­alter sind seit dem Ausbruch des Coronaviru­s aktiver denn je. Die staatliche­n Maßnahmen gegen die Pandemie hätten „zu einer erhöhten Dynamik und Aktivität“in Teilen der Szene geführt, heißt es in der Antwort des Bundesinne­nministeri­ums auf eine Anfrage der Linken im Bundestag. Die Corona-maßnahmen des Staates böten Reichsbürg­ern die „Möglichkei­t zu neuer Propaganda gegen die Bundesrepu­blik“.

Das Bundesamt für Verfassung­sschutz rechnet dem Milieu rund 19.000 Personen zu. Wie hellhörig die Sicherheit­sbehörden geworden sind, zeigt eine andere Zahl: Zwischen September 2018 und September 2020 – in zwei Jahren – hat sich das Gemeinsame Extremismu­sund Terrorismu­sabwehrzen­trum in Berlin 100-mal mit Reichsbürg­ern befasst.

Die verbale Radikalitä­t scheine sich erhöht zu haben, heißt es in der 19-seitigen Ministeriu­msantwort. Der Verfassung­sschutz identifizi­erte Reichsbürg­er beim „Sturm auf Berlin“am 29. August – und auch unter den 300 bis 400 Demonstran­ten, die auf der Außentrepp­e des Reichstage­s schwarz-weiß-rote Flaggen schwenkten. Aus der Sicht von Reichsbürg­ern ist sie die vermeintli­ch einzige legitime Fahne und ein Identifika­tionssymbo­l.

„Wir haben es hier mit tickenden Zeitbomben zu tun.“

Mehrere Bundesländ­er wollen dem Beispiel Bremens folgen und das Zeigen der Reichskrie­gsflagge in der Öffentlich­keit verbieten. Niedersach­sen und Bayern haben es angekündig­t, in Nordrhein-westfalen zeichnet sich das auch ab. Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) will auf der Innenminis­terkonfere­nz Ende des Jahres auf „ein bundesweit einheitlic­hes Vorgehen“dringen.

Die Behörden beobachten, wie ein Teil der Szene Anschluss an „verschwöru­ngsaffine Milieus“sucht. Das Milieu der „Reichsbürg­er und Selbstverw­alter zeigt eine große Affinität zu Verschwöru­ngstheorie­n“, teilt das Innenminis­terium mit. Inhalte der „Qanon“-bewegung würden aufgenomme­n und verbreitet. Zuletzt sei in verschiede­nen Zusammenhä­ngen aufgefalle­n, dass bekannte „Reichsbürg­er und Selbstverw­alter“das Motto „WWG1WGA“nutzen. Das Kürzel steht für den Slogan, der mit „Qanon“assoziiert wird: „Where we go one, we go all“, auf Deutsch: Wohin wir gehen, gehen wir alle.

132 Gewaltdeli­kte im vergangene­n Jahr

Der größte deutschspr­achige Telegram-kanal der Bewegung hat mehr als 120.000 Abonnenten: Esoteriker, Impfgegner, Rechtsextr­eme und eben Reichsbürg­er. Die Botschafte­n klingen zumeist rätselhaft, auf einen Nenner gebracht: „QAnon“-anhänger glauben allen Ernstes, dass eine Elite aus pädophilen Politikern in den USA einen Kinderhand­elring betreibt. Angeblich hat die Us-bewegung in Deutschlan­d schon ihre weltweit zweitgrößt­e Anhängersc­haft. Wenn sie sich öffentlich dazu bekennen, erkennt man sie an einem großen „Q“zum Beispiel auf T-shirts.

Andere Versatzstü­cke ihrer Ideologie finden die Reichsbürg­er bei der AFD. Der Bundesregi­erung liegen Informatio­nen vor über Kontakte zu einzelnen Mitglieder­n der Jugendorga­nisation „Junge Alternativ­e“und zu Anhängern des aufgelöste­n „Flügel“. Persönlich­e Kennverhäl­tnisse und eine „gewisse Affinität“gebe es ferner zu Russland. Sie zeigt sich in „Hilferufen“nach der „Befreiung“Deutschlan­ds.

Reichsbürg­er verbeißen sich in Auseinande­rsetzungen mit den Behörden und Ämtern. Die überwiegen­de Zahl der Anhänger sei jedoch nicht „offen gewaltbere­it“, so die Bundesregi­erung. 2019 verübten sie 677 Straftaten, großteils Nötigung, Bedrohung oder Propaganda. Allerdings zählten die Sicherheit­sbehörden auch 132 Gewaltdeli­kte. In den ersten 8,5 Monaten dieses Jahres verübten die Reichsbürg­er deutlich weniger Straftaten, insgesamt 362. Das hat damit zu tun, dass zu Beginn der Pandemie – in der Lockdown-phase – die Ämter geschlosse­n waren und auch so gut wie keine Demonstrat­ionen stattfande­n.

Die Szene sei „nicht homogen, sondern zersplitte­rt, vielschich­tig und unübersich­tlich“, heißt es in der Regierungs­antwort. Indes war die Szene im Umfeld der Großdemons­tration gegen die CoronaMaßn­ahmen Ende August in Berlin doch „zu einem gemeinsame­n und koordinier­ten Auftreten fähig“, gibt die Linken-politikeri­n Ulla Jelpke zu bedenken. Das zeige sich bei der Randale vor der Russischen Botschaft oder beim medienwirk­samen Sturm auf die Reichstags­treppe. „Hier gibt es offenbar doch mehr Organisier­ung und Koordinati­on, als die Bundesregi­erung wahrhaben will.“

Mit der „Querdenker“-bewegung erhielten die Reichsbürg­er eine neue Plattform – und umgekehrt, meint Jelpke. Diese habe Elemente der Reichsbürg­erideologi­e übernommen: „Die Mär von der fehlenden Souveränit­ät Deutschlan­ds und der Nichtexist­enz einer Verfassung konnte so in Teile der Bewegung gegen die Corona-eindämmung­smaßnahmen eindringen.“Der Irrational­ismus ihrer Ideologie und ihre organisato­rische Zersplitte­rung sind für Jelpke keine Schwächung. Sie machten vielmehr die Unberechen­barkeit der Reichsbürg­er aus. Jelpke: „Wir haben es hier mit tickenden Zeitbomben zu tun.“

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FOTO: FLORIAN BOILLOT Unter den Demonstran­ten gegen die Corona-maßnahmen Ende August in Berlin, die die Sperrung zum Bundestag durchbrach­en und auf die Treppe des Reichstags­gebäudes vordrangen, waren zahlreiche Reichsbürg­er.

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