Niemals den Leser unterschätzen!
Nach verbindlichen Kriterien guter Literatur fahndete ein Fachtag in Erfurt
Erfurt. „Richtig schlechte Bücher“, konstatiert der Göttinger Verleger Gerhard Steidl im Finale dieses sechsstündigen Vortrags- und Gesprächstages, „gibt es nur noch ganz selten.“Das wäre ein überraschendes Fazit in einer Veranstaltung, die danach fragte, was gute Literatur ausmacht.
Allerdings bezog sich das auf die Qualität nicht der Texte, sondern des Materials und seiner Verarbeitung. Zugleich blickt Steidl in Standardformen und Industriestandards dem Tod des Buches ins Auge. Dessen Schönheit sollte doch „Teil seiner Botschaft“sein, wie der Verleger von Günter Grass findet, dessen Gesamtwerk er jetzt in 24 leinengebundenen Bänden in einer handgefertigten Holzkassette herausgibt.
Der dritte Fachtag, den der Thüringer Literaturrat mit der Staatskanzlei in Erfurt ausrichtete, behauptete eine andere Dringlichkeit. Demnach kommen uns die Kriterien abhanden, anhand derer sich über gute Bücher sprechen und streiten ließe. „Austausch und Streit erfordern Maßstäbe und Kriterien“, findet Bernhard Frischer, Vorsitzender des Literaturrates. „Ohne Argumente ist der Streit fruchtlos und entzweiend.“
Um es gleich zu sagen: Zum Streit unter den knapp 60 teilnehmenden Autoren, Verlegern, Literaturvermittlern und Germanistikstudenten kam es in der Alten Parteischule nicht. Er fiel weitgehend aus und wich allenfalls mal einem leisen Murren in den Pausengesprächen.
Autor Andreas Pflüger: Romane zu schreiben ist wie ein Marathon Stattdessen konnte sich das Auditorium wohl auf die Position der Berliner Schriftstellerin Katja LangeMüller einigen, die mithilfe ihrer Frankfurter Poetikvorlesungen von 2016 die Dringlichkeit und Notwendigkeit eines Textes zum obersten Kriterium erhebt.
„Wenn ich beim Lesen den Eindruck gewinne“, zitiert sie sich selbst, „diesen Text konnte, nein, musste so nur diese Autorin, dieser Autor schreiben, wird mir von Zeile zu Zeile klarer: Jetzt habe ich es mit Literatur zu tun. Ein wirklich gelungenes Gedicht, eine echt gelungene Erzählung, einen ergreifenden Roman erkenne ich daran, dass eben dies keiner oder keinem anderen in den Sinn gekommen wäre.“
Lange-müller hält es dabei mit Heine: „Wir ergreifen keine Idee, die Idee ergreift uns.“Sie wolle wirklich etwas wissen von ihren Figuren; sie übernähmen beim Schreiben die Führung. Das korrespondierte in gewisser Weise mit dem langjährigen Drehbuchautor und heutigen Schriftsteller Andreas Pflüger, der bislang als Thriller getarnte Romane im Hauptprogramm von Suhrkamp veröffentlichte. „Der Autor muss dem Roman folgen, nicht umgekehrt“, so Pflüger.
Er und Lange-müller begegneten sich in Erfurt allenfalls im Fernduell. Der eine war bereits wieder verschwunden, als die andere ankam. Romane zu schreiben ist für Pflüger ein Marathon. Man müsse einen Fuß vor den anderen setzen. Im Übrigen nahm er den preußischen Generalmajor Clausewitz mit einem Zitat in Anspruch, das andere Generalfeldmarschall Moltke zusprechen: „Kein Plan übersteht die erste Feindberührung.“
Nicht der Leser, aber der Autor müsse vorher wissen, wie die Geschichte ausgeht, sagt Katja LangeMüller. Irgendwie anfangen, dann findet sich schon der nächste Satz: So was merke man beim Lesen. Überhaupt sei es ein Kardinalfehler, Leser zu unterschätzen. „Der Leser kann oft nicht sagen, warum er anfängt, dem Buch zu misstrauen. Aber er fühlt es. Leser merken alles, im Guten wie im Schlechten.“
Kritik der Literaturkritik:
Viel Inhaltsangabe, wenig Urteilskraft Gleichsam aus der Ecke der Literaturkritik war diesem Fachtag sein Thema zugefallen: durch Jens-fietje Dwars. Der Chefredakteur der Thüringer Literaturzeitschrift „Palmbaum“lässt in dieser allein auf vierzig Seiten Rezensionen abdrucken, derweil in Tageszeitungen der Raum für Literaturkritik eng geworden ist. Und wo sie stattfindet, fehle es an Urteilskraft, und gehe es über Inhaltsangaben kaum hinaus. In Hans-dieter Schütt, 20 Jahre lang
Feuilletonredakteur beim Neuen Deutschland, hatte er diesbezüglich einen zahm gewordenen Kritiker allein der Einfühlung und Demut zum Gesprächspartner erwählt. Dessen Hauptkriterium für gute Literatur: „Woher weiß der Dichter das von mir?“
Mit Kriterien für Literaturkritik tut sich Schütt schwer, gibt lieber eine Empfehlung Martin Walsers weiter: dass „Kritiker nur noch schrieben, wenn sie zustimmen können. Die Auslese- oder Verwerfungsprozedur fände genauso statt wie bisher: ein Buch, über das nicht geschrieben wird, hat keinem gefallen.“Doch wo blieben dann Austausch und Streit? Nach der guten Übersetzung fragte Katja Cassing nicht anhand japanischer Literatur, wie sie ihr Cass-verlag in Bad Berka erfolgreich herausbringt. Sie nahm sich ihr Lieblingsbuch vor: „Slow Man“alias „Zeitlupe“, ein englischsprachiger Roman des Südafrikaners J. M. Cotzee. „Ob es eine gute Übersetzung ist, weiß ich nur, wenn ich es mit dem Original vergleiche“, sagt Cassing und belegt, dass die deutsche Version einen „hörbar anderen Rhythmus“besitzt. Eine gute Übersetzung sei weniger wort- als wirkungstreu und werde dem Original in allen Punkten gerecht: Inhalt, Ton, Rhythmus. Aus ihr höre man die Autoren heraus, nicht die Übersetzer.
Die seien „die deutschen Stimmen der Autoren“, sekundiert Katja Lange-müller, meint aber auch: „Übersetzer können eine Menge leisten, wenn sie wollen.“„Moby Dick“in der Übersetzung von Matthias Jendis hält sie für so kongenial, „dass man sich fragt, ob Melvilles Englisch so gut ist wie Jendis‘ Deutsch.“Und Gerhard Steidl liebt es, neue Übersetzungen zu lesen. Sie machten zum Beispiel aus Bulgakows „Der Meister und Margarita“zuletzt „ein ganz neues Buch.“