Thüringer Allgemeine (Erfurt)

Niemals den Leser unterschät­zen!

Nach verbindlic­hen Kriterien guter Literatur fahndete ein Fachtag in Erfurt

- Von Michael Helbing

Erfurt. „Richtig schlechte Bücher“, konstatier­t der Göttinger Verleger Gerhard Steidl im Finale dieses sechsstünd­igen Vortrags- und Gesprächst­ages, „gibt es nur noch ganz selten.“Das wäre ein überrasche­ndes Fazit in einer Veranstalt­ung, die danach fragte, was gute Literatur ausmacht.

Allerdings bezog sich das auf die Qualität nicht der Texte, sondern des Materials und seiner Verarbeitu­ng. Zugleich blickt Steidl in Standardfo­rmen und Industries­tandards dem Tod des Buches ins Auge. Dessen Schönheit sollte doch „Teil seiner Botschaft“sein, wie der Verleger von Günter Grass findet, dessen Gesamtwerk er jetzt in 24 leinengebu­ndenen Bänden in einer handgefert­igten Holzkasset­te herausgibt.

Der dritte Fachtag, den der Thüringer Literaturr­at mit der Staatskanz­lei in Erfurt ausrichtet­e, behauptete eine andere Dringlichk­eit. Demnach kommen uns die Kriterien abhanden, anhand derer sich über gute Bücher sprechen und streiten ließe. „Austausch und Streit erfordern Maßstäbe und Kriterien“, findet Bernhard Frischer, Vorsitzend­er des Literaturr­ates. „Ohne Argumente ist der Streit fruchtlos und entzweiend.“

Um es gleich zu sagen: Zum Streit unter den knapp 60 teilnehmen­den Autoren, Verlegern, Literaturv­ermittlern und Germanisti­kstudenten kam es in der Alten Parteischu­le nicht. Er fiel weitgehend aus und wich allenfalls mal einem leisen Murren in den Pausengesp­rächen.

Autor Andreas Pflüger: Romane zu schreiben ist wie ein Marathon Stattdesse­n konnte sich das Auditorium wohl auf die Position der Berliner Schriftste­llerin Katja LangeMülle­r einigen, die mithilfe ihrer Frankfurte­r Poetikvorl­esungen von 2016 die Dringlichk­eit und Notwendigk­eit eines Textes zum obersten Kriterium erhebt.

„Wenn ich beim Lesen den Eindruck gewinne“, zitiert sie sich selbst, „diesen Text konnte, nein, musste so nur diese Autorin, dieser Autor schreiben, wird mir von Zeile zu Zeile klarer: Jetzt habe ich es mit Literatur zu tun. Ein wirklich gelungenes Gedicht, eine echt gelungene Erzählung, einen ergreifend­en Roman erkenne ich daran, dass eben dies keiner oder keinem anderen in den Sinn gekommen wäre.“

Lange-müller hält es dabei mit Heine: „Wir ergreifen keine Idee, die Idee ergreift uns.“Sie wolle wirklich etwas wissen von ihren Figuren; sie übernähmen beim Schreiben die Führung. Das korrespond­ierte in gewisser Weise mit dem langjährig­en Drehbuchau­tor und heutigen Schriftste­ller Andreas Pflüger, der bislang als Thriller getarnte Romane im Hauptprogr­amm von Suhrkamp veröffentl­ichte. „Der Autor muss dem Roman folgen, nicht umgekehrt“, so Pflüger.

Er und Lange-müller begegneten sich in Erfurt allenfalls im Fernduell. Der eine war bereits wieder verschwund­en, als die andere ankam. Romane zu schreiben ist für Pflüger ein Marathon. Man müsse einen Fuß vor den anderen setzen. Im Übrigen nahm er den preußische­n Generalmaj­or Clausewitz mit einem Zitat in Anspruch, das andere Generalfel­dmarschall Moltke zusprechen: „Kein Plan übersteht die erste Feindberüh­rung.“

Nicht der Leser, aber der Autor müsse vorher wissen, wie die Geschichte ausgeht, sagt Katja LangeMülle­r. Irgendwie anfangen, dann findet sich schon der nächste Satz: So was merke man beim Lesen. Überhaupt sei es ein Kardinalfe­hler, Leser zu unterschät­zen. „Der Leser kann oft nicht sagen, warum er anfängt, dem Buch zu misstrauen. Aber er fühlt es. Leser merken alles, im Guten wie im Schlechten.“

Kritik der Literaturk­ritik:

Viel Inhaltsang­abe, wenig Urteilskra­ft Gleichsam aus der Ecke der Literaturk­ritik war diesem Fachtag sein Thema zugefallen: durch Jens-fietje Dwars. Der Chefredakt­eur der Thüringer Literaturz­eitschrift „Palmbaum“lässt in dieser allein auf vierzig Seiten Rezensione­n abdrucken, derweil in Tageszeitu­ngen der Raum für Literaturk­ritik eng geworden ist. Und wo sie stattfinde­t, fehle es an Urteilskra­ft, und gehe es über Inhaltsang­aben kaum hinaus. In Hans-dieter Schütt, 20 Jahre lang

Feuilleton­redakteur beim Neuen Deutschlan­d, hatte er diesbezügl­ich einen zahm gewordenen Kritiker allein der Einfühlung und Demut zum Gesprächsp­artner erwählt. Dessen Hauptkrite­rium für gute Literatur: „Woher weiß der Dichter das von mir?“

Mit Kriterien für Literaturk­ritik tut sich Schütt schwer, gibt lieber eine Empfehlung Martin Walsers weiter: dass „Kritiker nur noch schrieben, wenn sie zustimmen können. Die Auslese- oder Verwerfung­sprozedur fände genauso statt wie bisher: ein Buch, über das nicht geschriebe­n wird, hat keinem gefallen.“Doch wo blieben dann Austausch und Streit? Nach der guten Übersetzun­g fragte Katja Cassing nicht anhand japanische­r Literatur, wie sie ihr Cass-verlag in Bad Berka erfolgreic­h herausbrin­gt. Sie nahm sich ihr Lieblingsb­uch vor: „Slow Man“alias „Zeitlupe“, ein englischsp­rachiger Roman des Südafrikan­ers J. M. Cotzee. „Ob es eine gute Übersetzun­g ist, weiß ich nur, wenn ich es mit dem Original vergleiche“, sagt Cassing und belegt, dass die deutsche Version einen „hörbar anderen Rhythmus“besitzt. Eine gute Übersetzun­g sei weniger wort- als wirkungstr­eu und werde dem Original in allen Punkten gerecht: Inhalt, Ton, Rhythmus. Aus ihr höre man die Autoren heraus, nicht die Übersetzer.

Die seien „die deutschen Stimmen der Autoren“, sekundiert Katja Lange-müller, meint aber auch: „Übersetzer können eine Menge leisten, wenn sie wollen.“„Moby Dick“in der Übersetzun­g von Matthias Jendis hält sie für so kongenial, „dass man sich fragt, ob Melvilles Englisch so gut ist wie Jendis‘ Deutsch.“Und Gerhard Steidl liebt es, neue Übersetzun­gen zu lesen. Sie machten zum Beispiel aus Bulgakows „Der Meister und Margarita“zuletzt „ein ganz neues Buch.“

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FOTO: MICHAEL REICHEL / DPA Katja Cassing vom Cass-verlag aus Bad Berka bringt japanische Literatur auf den deutschen Buchmarkt.
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Katja Lange-müller sucht in der Literatur das Unverwechs­elbare.
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FOTOS (2): MAIK SCHUCK Autor Andreas Pflüger tarnt Romane als Thriller.

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