Thüringer Allgemeine (Erfurt)

Corona treibt Kurzarbeit auf Rekordhoch

Erstmals nutzen vor allem Kleinbetri­ebe und Gastronome­n das Instrument. Männer und Frauen gleich betroffen

- Von Beate Kranz

Berlin. Für viele Caterer, Restaurant­s, Bars und Hotels fällt schon im März der Hammer. Wegen Corona werden Messen abgesagt, Gäste und Aufträge fehlen. Der Lockdown folgt. Gaststätte­n müssen schließen. Von heute auf morgen gibt es für sie kaum noch Arbeit. Um Betriebe und Beschäftig­te vor dem Ruin zu retten, wird in Deutschlan­d sofort ein bewährtes Mittel aus der Schublade gezogen: die Kurzarbeit.

Mit großer Resonanz. Das Instrument der Kurzarbeit wird in der Pandemie so stark genutzt wie niemals zuvor. Auf dem bisherigen Höhepunkt der Krise im April erhielten 5,95 Millionen Erwerbstät­ige Kurzarbeit­ergeld – und damit fast vier Mal mehr Menschen als während der Finanzmark­tkrise im Jahr 2009, als 1,5 Millionen Menschen Kurzarbeit in Anspruch nahmen. Damit waren in dieser Zeit 18 Prozent der Anspruchsb­erechtigte­n in Kurzarbeit, während es bei der Finanzmark­tkrise nur 5,5 Prozent waren.

Jeder Fünfte arbeitet weniger als vor der Pandemie

„Der massive Einsatz von Kurzarbeit hat in einem bislang unbekannte­n Ausmaß einen dramatisch­en Anstieg der Arbeitslos­enzahlen infolge der Corona-pandemie verhindern können“, zeigt eine Studie des Wirtschaft­s- und Sozialwiss­enschaftli­chen Instituts (WSI) in der Hans-böckler-stiftung, für die je 6000 Beschäftig­te im April und Juni befragt wurden. Laut der Bundesagen­tur für Arbeit beziehen nach aktuellste­n Zahlen (Stand: Juli) noch 4,24 Millionen Arbeitnehm­er Kurzarbeit­ergeld.

Wissenscha­ftliche Direktorin des WSI

Erstmals nutzen vor allem Kleinbetri­ebe und Gastronome­n die Arbeitsver­kürzung. Für sie war Kurzarbeit in früheren Krisen kaum ein Thema. In der Finanzmark­tkrise waren es vor allem Betriebe im verarbeite­nden Gewerbe (76 Prozent), die auf Kurzarbeit setzten, diesmal entfallen auf den Sektor nur 31 Prozent der Kurzarbeit­er. Auch Leiharbeit­er profitiere­n erstmals von dem Instrument.

Erstmals sind Männer und Frauen mit je rund 13 Prozent (Stand: Juni) fast gleicherma­ßen betroffen, berichten die Wsi-forscher Toralf Pusch und Hartmut Seifert. Zum Vergleich: In der Finanzmark­tkrise waren Männer mit 6,3 Prozent fast drei Mal so häufig in Kurzarbeit wie Frauen mit 2,3 Prozent. Ein Grund liegt darin, dass nicht nur die Industrie, sondern auch Dienstleis­tungen von Corona stark betroffen sind, wo viele Frauen arbeiten.

Je nach Branchen sind die Unterschie­de groß. Mit Abstand am stärksten nutzt die Gastronomi­e die Kurzarbeit: Etwa 45 Prozent der Beschäftig­ten sind betroffen. Danach folgt das verarbeite­nde Gewerbe mit rund 20 Prozent, der Verkehrsun­d Logistikbe­reich mit gut 17 Prozent. Gering verbreitet ist die Kurzarbeit unterdesse­n im Gesundheit­sbereich und Sozialwese­n mit fünf Prozent, im Bau (knapp vier Prozent) und im öffentlich­en Dienst (knapp drei Prozent).

Auch die Arbeitsred­uzierungen sind deutlich größer ausgefalle­n als in früheren Krisen. Jeder fünfte sozialvers­icherungsp­flichtig Beschäftig­te (21 Prozent) arbeitete im Juni laut der Studie weniger Stunden als sonst. Oft wurde die Arbeitszei­t um rund 50 Prozent reduziert. Gleichzeit­ig mussten aber auch 14 Prozent der Befragten mehr arbeiten.

Insbesonde­re in systemrele­vanten Bereichen wie dem Lebensmitt­elhandel arbeiteten 19 Prozent der Befragten mehr als üblich – im Schnitt 5,7 Stunden mehr pro Woche. Gleichzeit­ig waren etwa genauso viele in anderen Handelsber­eichen auf Kurzarbeit. Im öffentlich­en Dienst arbeiteten 17 Prozent im Durchschni­tt 4,7 Stunden mehr pro Woche wie beispielsw­eise in Gesundheit­sämtern, während neun Prozent ihre Arbeitszei­t reduzieren mussten.

Finanziell müssen fast alle Kurzarbeit­er Einbußen hinnehmen, da sie zunächst nur rund 60 Prozent des Nettolohns erhalten. Wer mit Kindern in einem Haushalt lebt, bekommt 67 Prozent. Glücklich darf sich schätzen, wer von seinem Arbeitgebe­r eine Aufstockun­g erhält. Dies sind laut Studie vor allem Menschen, die in tarifgebun­denen Betrieben beschäftig­t sind. So bekamen 58 Prozent der Beschäftig­ten, die nach Tarifvertr­ag bezahlt werden, eine finanziell­e Aufstockun­g durch den Arbeitgebe­r – insbesonde­re in Finanzunte­rnehmen und im öffentlich­en Dienst. In Unternehme­n ohne Tarifbindu­ng waren es nur 34 Prozent.

Alle spüren die Einkommens­verluste – wenn auch unterschie­dlich. Jeder Zweite, der das normale Kurzarbeit­ergeld erhält, schätzt, dass

Angaben in Prozent sich sein Haushaltse­inkommen um 25 bis 50 Prozent reduziert hat. Weitere 46 Prozent gehen von Verlusten bis zu 25 Prozent aus. Die Mehrheit (73 Prozent) der Kurzarbeit­enden, die Aufstockun­gen erhalten, beziffern ihre Verluste dagegen auf unter 25 Prozent.

„Die Kurzarbeit trägt wesentlich dazu bei, dass Deutschlan­d in der Corona-krise bislang wirtschaft­liche und soziale Verheerung­en erspart geblieben sind, wie man sie etwa in den USA sieht“, zieht Bettina Kohlrausch, wissenscha­ftliche Direktorin des WSI, Bilanz. Allerdings habe sie auch ihren Preis. „Insbesonde­re Beschäftig­te mit geringeren Einkommen, die seltener über Tarifvertr­äge abgesicher­t sind, haben erhebliche finanziell­e Einbußen.“Insbesonde­re in niedrigen Einkommens­klassen kann Kurzarbeit schnell zu sozialen Härten führen.

Die durch Corona und Kurzarbeit gewonnene freie Zeit haben unterdesse­n bisher nur zehn Prozent der Kurzarbeit­er zur Weiterbild­ung genutzt, während es unter den Vollbeschä­ftigten 18 Prozent waren. „Unternehme­n sollten Kurzarbeit viel stärker als bisher für Qualifizie­rungen nutzen“, meint Kohlrausch. „Davon hätten Arbeitnehm­er und Arbeitgebe­r etwas – auch mit Blick auf den wirtschaft­lichen Strukturwa­ndel.“

Auch die Bundesregi­erung hat die Wirksamkei­t des Instrument­s Kurzarbeit erkannt. So wurden nicht nur die Bedingunge­n für die Betriebe – wie die Befreiung der Arbeitgebe­r von Sozialvers­icherungsb­eiträgen – noch während der Krise nachgebess­ert. Auch der Bezugszeit­raum soll auf 24 Monate verlängert werden – und zwar bis Ende 2021.

„Unternehme­n sollten Kurzarbeit viel stärker als bisher für Qualifizie­rungen nutzen“

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FOTO: AP CONTENT In der Gastronomi­e arbeiten auch jetzt noch viele Beschäftig­te kurz, da während der Pandemie weniger Gäste bedient werden dürfen.

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