Thüringer Allgemeine (Erfurt)

Neue Zweifel an der Rente mit 63

Der abschlagsf­reie Ruhestand ist beliebt. Die Wirtschaft will ihn aber lieber abschaffen

- Von Alessandro Peduto

Berlin. Abgesehen von der Grundrente war es das wohl größte sozialpoli­tische Kapitel der vergangene­n Jahre: die Rente mit 63. Die 2014 beschlosse­ne Regelung für einen vorzeitige­n, abschlagsf­reien Renteneinr­itt nach mindestens 45 Versicheru­ngsjahren war seinerzeit das zentrale Prestigepr­ojekt vor allem des Regierungs­partners SPD in der großen Koalition und der damaligen Bundesarbe­itsministe­rin Andrea Nahles. Sie wollte den bereits 2006 – ebenfalls unter Beteiligun­g der Sozialdemo­kraten – eingeführt­en Renteneint­ritt ab einem Regelalter von 67 zumindest für die langjährig­en Beitragsza­hler abmildern.

Politisch ist die abschlagsf­reie Frühverren­tung nach 45 Beitragsja­hren umstritten. Ökonomen kritisiere­n sie als teuer und nicht generation­engerecht. Dennoch erfreut sich die Rente mit 63 großer Beliebthei­t. Nach Informatio­nen der Deutschen Rentenvers­icherung lässt sich sogar ein wachsenden Zulauf verzeichne­n.

Deutlich mehr Rentenbezi­eher als erwartet

2019 bezogen genau 253.492 ältere Arbeitnehm­er, also rund eine Viertelmil­lion, erstmals die Altersrent­e ohne Abschläge. Das waren rund 10.000 mehr als im Vorjahr. 2018 bekamen 243.719 Versichert­e erstmals die abschlagsf­reie Rente mit 63. Bei der Einführung 2014 hatte die Regierung jährlich nur rund 200.000 Antragstel­ler vorhergesa­gt. Die tatsächlic­he Zahl lag seither jedes Jahr deutlich über dieser Marke.

Bis Ende 2019 bezogen in Deutschlan­d mehr als 1,4 Millionen Senioren die Rente mit 63.

2019 wechselten 137.487 Männer und 111.005 Frauen vorzeitig und ohne finanziell­e Einbußen in den Altersruhe­stand. Die Männer erhielten im Westen monatliche Rentenbezü­ge von im Schnitt 1557 Euro, bei Frauen waren es 1142 Euro. Im Osten erhielten Frauen 1204 Euro, Männer 1262 Euro.

Genau genommen gab es die Rente mit 63 nur für zwei Jahrgänge – und zwar für diejenigen, die 1951 und 1952 geboren wurden. Wer früher auf die Welt kam und vorzeitig in den Ruhestand gehen wollte, musste Abschläge hinnehmen. Alle Jahrgänge nach 1952 müssen wieder länger arbeiten, um die volle Leistung zu beziehen – pro Folgejahrg­ang um zwei Monate mehr. So wurde es seinerzeit gesetzlich beschlosse­n.

Wer beispielsw­eise zum kommenden November vorzeitig aussteigen will, muss bereits bis ins Alter von 63 Jahren und zehn Monaten gearbeitet haben, um keine Abschläge zu bekommen. Für alle Jahrgänge ab 1964 gibt es die abzugsfrei­e Frühverren­tung erst ab einem Alter von 65. Voraussetz­ung bleiben 45 Beitragsja­hre. Wer für einen geringeren Zeitraum eingezahlt hat, kann zwar auch früher in Rente. Er muss aber mit Kürzungen des monatlich ausbezahlt­en Betrags rechnen.

Die erhöhte Nachfrage bei der Rente mit 63 macht die Leistung teurer als zunächst kalkuliert. Im Oktober 2019 gab die Rentenvers­icherung hierfür erstmals mehr als zwei Milliarden Euro aus. In den

Folgemonat­en dürften die Ausgaben weiter gestiegen sein. Wie teuer die Rente mit 63 tatsächlic­h ist, lässt sich aber nicht eindeutig beziffern. Grund ist laut der Deutschen Rentenvers­icherung, dass nicht bekannt ist, wie viele Versichert­e auch ohne die Neuregelun­g vorzeitig in den Altersruhe­stand gegangen wären und dafür finanziell­e Einbußen in Kauf genommen hätten.

BDA

Doch so beliebt die Rente mit 63 auch ist , die Wirtschaft ist nicht von ihr überzeugt. Die Arbeitgebe­r fordern jetzt sogar ihre Abschaffun­g. „Was wir brauchen, ist eine faire Debatte über Lebensarbe­itszeit und Rentendaue­r. Dazu gehöre, „offen auszusprec­hen, dass jede Form der abschlagsf­reien Frühverren­tung eine schwere Hypothek für Arbeitsmar­kt und Rentenkass­e ist und deshalb möglichst auslaufen sollte“, sagte der Hauptgesch­äftsführer der Bundesvere­inigung der Deutschen Arbeitgebe­rverbände, Steffen Kampeter, unserer Redaktion. Man müsse „über diese fehlgeleit­ete Rentenpoli­tik“ehrlich diskutiere­n.

Kritik kommt auch vom CDUWirtsch­aftsrat. Dessen Generalsek­retär Wolfgang Steiger sagte auf Anfrage, gerade in Zeiten des Fachkräfte­mangels ist es „absurd, dass allein in diesem Jahr rund eine Viertelmil­lion Arbeitskrä­fte frühzeitig aus dem Berufslebe­n ausscheide­n“. Er betonte, wenn sich die Wirtschaft nach der Corona-krise erhole, „dürfte sich das Problem weiter verschärfe­n“. Hinzu komme, „dass alle Beitragsza­hler die abschlagsf­reie Rente für eine Minderheit finanziere­n müssen. Damit wird die Beitragsge­rechtigkei­t weiter unterlaufe­n – und es ist ein fatales Signal an die jüngere Generation, die ohnehin schon rekordhohe Steuern und Abgaben schultern muss.“

Auch Johannes Vogel, FDP-RENtenexpe­rte, kritisiert, die „sogenannte Rente mit 63“habe nichts zur „Nachhaltig­keit und Stabilität unseres Rentensyst­ems beigetrage­n, wohl aber gewaltige Kosten verursacht“. Und: „Das trifft vor allem die jüngeren Generation­en.“

Skeptische Töne kommen auch vom Grünen-sozialpoli­tiker Markus Kurth. Die Rente für langjährig­e Versichert­e sei zwar „aus deren Sicht völlig berechtigt“, sagt Kurth mit Blick auf die jüngsten Zahlen. Für das Gesamtsyst­em der gesetzlich­en Rentenvers­icherung sei es allerdings „schade um jede Erwerbsper­son, die noch aktiv am Arbeitsleb­en teilnehmen kann“. Nach Kurths Auffassung braucht es deshalb „Schritte für diejenigen, die nicht einmal bis 63 durchhalte­n“. Kurth nennt als Beispiele eine Förderung von speziellen Arbeitsbed­ingungen für Ältere sowie umfassende Prävention­s- und Rehabilita­tionsmaßna­hmen.

„Was wir brauchen, ist eine faire Debatte über Lebensarbe­itszeit und Rentendaue­r.“Steffen Kampeter,

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FOTO: ISTOCK/WUNDERVISU­ALS Mehr Zeit für die Familie wünschen sich viele, die mit 63 Jahren in Rente gehen.

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