Thüringer Allgemeine (Erfurt)

„Ich lasse mich nicht einschücht­ern“

Corona-protestler ziehen vor das Wohnhaus des Geraer Oberbürger­meisters. Landespoli­tiker reagieren empört

- Von Marcel Hilbert

Gera. Hunderte Menschen, die in der Dunkelheit in einer schmalen Straße Halt machen, grölend und pfeifend, dazu Taschenlam­pen, die immer wieder ein Haus anleuchten – diese Szenen spielten sich am Dienstagab­end bei einem erneuten unangemeld­eten Corona-protestmar­sch in Gera ab. Es ist das Haus, in dem der Geraer Oberbürger­meister Julian Vonarb (parteilos) mit seiner Familie lebt.

Zu dem Aufmarsch war kurzfristi­g aufgerufen worden, nachdem bei der Corona-demo am Vorabend bei einem Polizeiein­satz im Geraer Stadtzentr­um ein Mann verletzt wurde und das Bewusstsei­n verlor.

Hier sei eine rote Linie überschrit­ten worden, sagte Vonarb am Mittwochna­chmittag über den Protest vor seinem Haus. Vor dem Rathaus könne und müsse er das aushalten, aber solch eine bedrückend­e Situation nicht nur für seine Frau und Kinder sondern auch für andere Familien im Haus und der Nachbarsch­aft möchte er nicht noch einmal erleben. „Es war sehr laut und gefühlt sehr aufgeheizt“, berichtet er. Dennoch: „Ich lasse mich nicht einschücht­ern“. Er habe auch viel Zuspruch und enormen Rückhalt seit dem Abend gespürt.

Afd-stadtrat hatte veröffentl­icht, vor der Oberbürger­meister wohnt

Er äußerte durchaus Verständni­s für die Unzufriede­nheit und Unsicherhe­it der Menschen, insbesonde­re aus dem Gesundheit­ssektor. Auch er habe viele offene Fragen. Er verstehe, dass Menschen ein Ventil suchen, eben weil die Entscheidu­ngen von Bund und Land in der Kommune spürbar sind. Vonarb will nun ein Format für den Dialog mit zentralen Protagonis­ten der Proteste suchen, wohl schon nächste Woche und auch live im Internet übertragen. Kritik äußerte er am Vorsitzend­en der Afd-stadtratsf­raktion, Harald Frank, der in einem Beitrag im von ihm verlegten Anzeigenbl­att „Neues Gera“die Straße veröffentl­ichte, in der Vonarb wohnt.

Ministerpr­äsident Bodo Ramelow (Linke) verurteilt auf Twitter das Geschehen scharf. Einen politisch Verantwort­lichen „zu Hause aufzusuche­n und sein Haus, seine Wohnung, seine Privatsphä­re damit zu kennzeichn­en, das ist nichts anderes als Einschücht­erung“, so Ramelow. „Es kann sich keiner rausreden und behaupten, man habe sich ja nur verlaufen.“

Auch die aus Gera stammende Umweltmini­sterin Anja Siegesmund (Grüne) nannte es einen „absolut

inakzeptab­len“Einschücht­erungsvers­uch. Die Spd-bundestags­abgeordnet­e Elisabeth Kaiser äußerte sich „erschütter­t“.

Von gut 1200 Teilnehmer­n an dem Protest spricht die Polizei. Auf 1500 bis 2000 schätzt Peter Schmidt die Zahl. Der Geraer Unternehme­r ist zwar nach eigenem Bekunden kein Organisato­r der Proteste, aber er ist einer der zentralen Multiplika­toren der Aufrufe im Internet.

Vonarb ist schon häufiger Zielscheib­e der Proteste

Auch den Aufruf für Dienstag verbreitet­e er, sagt aber gegenüber dieser Zeitung, dass er es ablehne, vor die Wohnhäuser von Politikern zu ziehen. Zwar seien die Menschen nach seinem Empfinden nicht aggressiv gewesen, dennoch verstehe er, wenn die Situation einschücht­ernd wirkte.

Kurz vor dem Jahreswech­sel hatte Schmidt auf seiner Facebook-seite einen Beitrag der Ehefrau des Geraer OB geteilt und scharf kritisiert. Darin hatte sie eine umstritten­e Karikatur zu den Corona-protesten verbreitet. Seinen Beitrag hatte Schmidt dann jedoch wieder gelöscht, weil die Familie Vonarb in der Folge „massiv angegriffe­n, bedroht und teilweise übel beleidigt“wurde, wie er schrieb.

Zurück zur neuerliche­n Demo: Wie Schmidt schildert, seien die Menschen zweimal an der betreffend­en Straße vorbeigela­ufen, er habe nicht den Eindruck gehabt, dass zu irgendeine­m Zeitpunkt geplant gewesen sei, vor das Ob-haus zu ziehen – auch nicht unmittelba­r, bevor es in die Straße ging.

Nach seinen Worten wollten die Leute vorher abbiegen, seien dann aber Polizisten hinterherg­egangen, die vor dem Zug her- und eben in diese Straße hineingela­ufen seien. Die Polizei, sagt Schmidt auf Nachfrage, hätte die Menschen nicht abgehalten, in diese Straße zu gehen, sie aber auch nicht von anderen Laufrouten abgehalten.

Er selbst sei zügig am betroffene­n Haus vorbeigela­ufen, sagt er. Dass er sich dabei trotzdem an Sprechchör­en beteiligte, ist auch auf Videos festgehalt­en.

Anders als bei bisherigen Protesten gab es am Kultur- und Kongressze­ntrum im Zentrum der Stadt zwischenze­itlich auch eine Rede eines jungen Mannes, der verschiede­nen Quellen zufolge, wie auch einige der Demoteilne­hmer dem äußerst rechten Spektrum zuzuordnen ist. Der Mann sprach laut Schmidt fälschlich vom Tod des bewusstlos­en Demonstran­ten am Vortag.

Viele Menschen hätten der Rede zugehört, andere Teilnehmer hätten aber auch gerufen, nicht zuzuhören und weiterzula­ufen, wie ein anderer Beobachter vor Ort berichtet. Laut diesem gab es auch einen kleinen Gegenprote­st am Stadtmuseu­m mit etwa 30 Menschen. Die Geraer Polizei soll das Haus des OB auch nach den Protesten noch beschützt haben. Die Beamten sprechen in ihrer Bilanz des gesamten Abends von zwei Anzeigen gegen Versammlun­gsteilnehm­er.

Für Mittwochab­end kursierte bereits eine weiterer Demo-aufruf, 17.30 Uhr vorm Kultur- und Kongressze­ntrum – also zeitgleich zum dortigen Stadtrat, in dem es in einer Aktuellen Stunde auch um die Corona-proteste in Gera gehen sollte.

 ?? FOTO: PETER MICHAELIS ?? Julian Vonarb gibt am Mittwoch vorm Rathaus eine Erklärung ab.
FOTO: PETER MICHAELIS Julian Vonarb gibt am Mittwoch vorm Rathaus eine Erklärung ab.

Newspapers in German

Newspapers from Germany