„Ich lasse mich nicht einschüchtern“
Corona-protestler ziehen vor das Wohnhaus des Geraer Oberbürgermeisters. Landespolitiker reagieren empört
Gera. Hunderte Menschen, die in der Dunkelheit in einer schmalen Straße Halt machen, grölend und pfeifend, dazu Taschenlampen, die immer wieder ein Haus anleuchten – diese Szenen spielten sich am Dienstagabend bei einem erneuten unangemeldeten Corona-protestmarsch in Gera ab. Es ist das Haus, in dem der Geraer Oberbürgermeister Julian Vonarb (parteilos) mit seiner Familie lebt.
Zu dem Aufmarsch war kurzfristig aufgerufen worden, nachdem bei der Corona-demo am Vorabend bei einem Polizeieinsatz im Geraer Stadtzentrum ein Mann verletzt wurde und das Bewusstsein verlor.
Hier sei eine rote Linie überschritten worden, sagte Vonarb am Mittwochnachmittag über den Protest vor seinem Haus. Vor dem Rathaus könne und müsse er das aushalten, aber solch eine bedrückende Situation nicht nur für seine Frau und Kinder sondern auch für andere Familien im Haus und der Nachbarschaft möchte er nicht noch einmal erleben. „Es war sehr laut und gefühlt sehr aufgeheizt“, berichtet er. Dennoch: „Ich lasse mich nicht einschüchtern“. Er habe auch viel Zuspruch und enormen Rückhalt seit dem Abend gespürt.
Afd-stadtrat hatte veröffentlicht, vor der Oberbürgermeister wohnt
Er äußerte durchaus Verständnis für die Unzufriedenheit und Unsicherheit der Menschen, insbesondere aus dem Gesundheitssektor. Auch er habe viele offene Fragen. Er verstehe, dass Menschen ein Ventil suchen, eben weil die Entscheidungen von Bund und Land in der Kommune spürbar sind. Vonarb will nun ein Format für den Dialog mit zentralen Protagonisten der Proteste suchen, wohl schon nächste Woche und auch live im Internet übertragen. Kritik äußerte er am Vorsitzenden der Afd-stadtratsfraktion, Harald Frank, der in einem Beitrag im von ihm verlegten Anzeigenblatt „Neues Gera“die Straße veröffentlichte, in der Vonarb wohnt.
Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) verurteilt auf Twitter das Geschehen scharf. Einen politisch Verantwortlichen „zu Hause aufzusuchen und sein Haus, seine Wohnung, seine Privatsphäre damit zu kennzeichnen, das ist nichts anderes als Einschüchterung“, so Ramelow. „Es kann sich keiner rausreden und behaupten, man habe sich ja nur verlaufen.“
Auch die aus Gera stammende Umweltministerin Anja Siegesmund (Grüne) nannte es einen „absolut
inakzeptablen“Einschüchterungsversuch. Die Spd-bundestagsabgeordnete Elisabeth Kaiser äußerte sich „erschüttert“.
Von gut 1200 Teilnehmern an dem Protest spricht die Polizei. Auf 1500 bis 2000 schätzt Peter Schmidt die Zahl. Der Geraer Unternehmer ist zwar nach eigenem Bekunden kein Organisator der Proteste, aber er ist einer der zentralen Multiplikatoren der Aufrufe im Internet.
Vonarb ist schon häufiger Zielscheibe der Proteste
Auch den Aufruf für Dienstag verbreitete er, sagt aber gegenüber dieser Zeitung, dass er es ablehne, vor die Wohnhäuser von Politikern zu ziehen. Zwar seien die Menschen nach seinem Empfinden nicht aggressiv gewesen, dennoch verstehe er, wenn die Situation einschüchternd wirkte.
Kurz vor dem Jahreswechsel hatte Schmidt auf seiner Facebook-seite einen Beitrag der Ehefrau des Geraer OB geteilt und scharf kritisiert. Darin hatte sie eine umstrittene Karikatur zu den Corona-protesten verbreitet. Seinen Beitrag hatte Schmidt dann jedoch wieder gelöscht, weil die Familie Vonarb in der Folge „massiv angegriffen, bedroht und teilweise übel beleidigt“wurde, wie er schrieb.
Zurück zur neuerlichen Demo: Wie Schmidt schildert, seien die Menschen zweimal an der betreffenden Straße vorbeigelaufen, er habe nicht den Eindruck gehabt, dass zu irgendeinem Zeitpunkt geplant gewesen sei, vor das Ob-haus zu ziehen – auch nicht unmittelbar, bevor es in die Straße ging.
Nach seinen Worten wollten die Leute vorher abbiegen, seien dann aber Polizisten hinterhergegangen, die vor dem Zug her- und eben in diese Straße hineingelaufen seien. Die Polizei, sagt Schmidt auf Nachfrage, hätte die Menschen nicht abgehalten, in diese Straße zu gehen, sie aber auch nicht von anderen Laufrouten abgehalten.
Er selbst sei zügig am betroffenen Haus vorbeigelaufen, sagt er. Dass er sich dabei trotzdem an Sprechchören beteiligte, ist auch auf Videos festgehalten.
Anders als bei bisherigen Protesten gab es am Kultur- und Kongresszentrum im Zentrum der Stadt zwischenzeitlich auch eine Rede eines jungen Mannes, der verschiedenen Quellen zufolge, wie auch einige der Demoteilnehmer dem äußerst rechten Spektrum zuzuordnen ist. Der Mann sprach laut Schmidt fälschlich vom Tod des bewusstlosen Demonstranten am Vortag.
Viele Menschen hätten der Rede zugehört, andere Teilnehmer hätten aber auch gerufen, nicht zuzuhören und weiterzulaufen, wie ein anderer Beobachter vor Ort berichtet. Laut diesem gab es auch einen kleinen Gegenprotest am Stadtmuseum mit etwa 30 Menschen. Die Geraer Polizei soll das Haus des OB auch nach den Protesten noch beschützt haben. Die Beamten sprechen in ihrer Bilanz des gesamten Abends von zwei Anzeigen gegen Versammlungsteilnehmer.
Für Mittwochabend kursierte bereits eine weiterer Demo-aufruf, 17.30 Uhr vorm Kultur- und Kongresszentrum – also zeitgleich zum dortigen Stadtrat, in dem es in einer Aktuellen Stunde auch um die Corona-proteste in Gera gehen sollte.