Wie wirklich ist die Wirklichkeit?
Eine wiederentdeckte Erzählung einer Weimarer Schriftstellerin und ihre Parallelen zum Leben in der Pandemie
Weimar. Junge Müller erlebten früher bekanntlich viel, das Wandern war ihre Lust und bei Ausübung dieser Lust gerieten sie – was ja auch ihrer Absicht entsprach – in fremde, traumhafte Gegenden, lernten junge Mädchen kennen und verirrten sich oft in wunderliche und/oder gefährliche Lebenslagen.
So geht es auch dem Helden der Erzählung „Die Abenteuer des Müllers Crispin“. Geschrieben hat sie Juliane Karwath, die 1877 in Straßburg geboren wurde und lange Jahre als Lehrerin und Schriftstellerin in Weimar lebte. Crispin hat mit Wölfen zu tun und mit Werwölfen, mit der schönen Evamaria, mit der heiligen Walpurgis, einem Bärenführer, einem wagemutigen Schatzsucher, wilden Schießereien und vor allem mit dem wunderlichen Martin
Pumphut, der durch die
Lande zieht und geizige Müllermeister bestraft, indem er ihre Mühlbäche „stehen lässt“. Es tut sich eine Welt voller Überraschungen auf, von der wir uns oft fragen, ob sie real ist oder erfunden oder beides zugleich. Wahr und Falsch, Gut und Böse sind schwer voneinander zu unterscheiden. Nur eines ist sicher: Die Geschichte des Crispin geht gut aus, er bekommt eine schöne Müllerin, wenn auch erst ganz am Schluss.
Oder ist auch das wieder nur eine Erfindung? Wir können Crispin nicht fragen, denn es gibt ihn ja nur innerhalb des Buches und da weiß er kaum, wer er selbst ist. Auch Juliane Karwath können wir nicht mehr fragen, denn sie starb 1931 in Oberweimar, wo heute noch eine Gedenktafel am Haus Bahnhofstraße 30 an sie erinnert.
Wiederentdeckt wurde das seit einem knappen Jahrhundert vergessene Buch von Martin A. Völker, der als Schriftsteller und Literaturarchäologe in Berlin lebt. Er hat der Geschichte ein hochinteressantes und für unsere Pandemiezeiten bedenkenswertes Nachwort hinzugefügt: „Über das Als-ob in der Literatur“. Gerade in diesen Wochen und Monaten, in denen Politik, Medien und Gesellschaft eine Welt aus Zahlen und algorithmisierten Prognosen zu bauen versuchen, deren Konsistenz und Aussagekraft aufgrund unterschiedlicher weltanschaulicher Bewertungen der im Übrigen ständig korrigierten Zahlen hoch umstritten und fluide ist, erleben wir, dass nicht nur die literarische, sondern auch die „wirkliche“Wirklichkeit viel Ähnlichkeit mit einer Konstruktion, wenn nicht mit einer Fiktion hat, gebaut aus Angst, Hoffnung und Zahlen.
Juliane Karwath: Die Abenteuer des Müllers Crispin. Elsinor Verlag, 16 Euro