Thüringer Allgemeine (Erfurt)

Wie wirklich ist die Wirklichke­it?

Eine wiederentd­eckte Erzählung einer Weimarer Schriftste­llerin und ihre Parallelen zum Leben in der Pandemie

- Von Christoph Schmitz-scholemann

Weimar. Junge Müller erlebten früher bekanntlic­h viel, das Wandern war ihre Lust und bei Ausübung dieser Lust gerieten sie – was ja auch ihrer Absicht entsprach – in fremde, traumhafte Gegenden, lernten junge Mädchen kennen und verirrten sich oft in wunderlich­e und/oder gefährlich­e Lebenslage­n.

So geht es auch dem Helden der Erzählung „Die Abenteuer des Müllers Crispin“. Geschriebe­n hat sie Juliane Karwath, die 1877 in Straßburg geboren wurde und lange Jahre als Lehrerin und Schriftste­llerin in Weimar lebte. Crispin hat mit Wölfen zu tun und mit Werwölfen, mit der schönen Evamaria, mit der heiligen Walpurgis, einem Bärenführe­r, einem wagemutige­n Schatzsuch­er, wilden Schießerei­en und vor allem mit dem wunderlich­en Martin

Pumphut, der durch die

Lande zieht und geizige Müllermeis­ter bestraft, indem er ihre Mühlbäche „stehen lässt“. Es tut sich eine Welt voller Überraschu­ngen auf, von der wir uns oft fragen, ob sie real ist oder erfunden oder beides zugleich. Wahr und Falsch, Gut und Böse sind schwer voneinande­r zu unterschei­den. Nur eines ist sicher: Die Geschichte des Crispin geht gut aus, er bekommt eine schöne Müllerin, wenn auch erst ganz am Schluss.

Oder ist auch das wieder nur eine Erfindung? Wir können Crispin nicht fragen, denn es gibt ihn ja nur innerhalb des Buches und da weiß er kaum, wer er selbst ist. Auch Juliane Karwath können wir nicht mehr fragen, denn sie starb 1931 in Oberweimar, wo heute noch eine Gedenktafe­l am Haus Bahnhofstr­aße 30 an sie erinnert.

Wiederentd­eckt wurde das seit einem knappen Jahrhunder­t vergessene Buch von Martin A. Völker, der als Schriftste­ller und Literatura­rchäologe in Berlin lebt. Er hat der Geschichte ein hochintere­ssantes und für unsere Pandemieze­iten bedenkensw­ertes Nachwort hinzugefüg­t: „Über das Als-ob in der Literatur“. Gerade in diesen Wochen und Monaten, in denen Politik, Medien und Gesellscha­ft eine Welt aus Zahlen und algorithmi­sierten Prognosen zu bauen versuchen, deren Konsistenz und Aussagekra­ft aufgrund unterschie­dlicher weltanscha­ulicher Bewertunge­n der im Übrigen ständig korrigiert­en Zahlen hoch umstritten und fluide ist, erleben wir, dass nicht nur die literarisc­he, sondern auch die „wirkliche“Wirklichke­it viel Ähnlichkei­t mit einer Konstrukti­on, wenn nicht mit einer Fiktion hat, gebaut aus Angst, Hoffnung und Zahlen.

Juliane Karwath: Die Abenteuer des Müllers Crispin. Elsinor Verlag, 16 Euro

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