Thüringer Allgemeine (Erfurt)

„Im Kopf war nichts als dicker Nebel“

Die lebensbedr­ohlich an Covid-19 erkrankte Kerstin Radicke leidet an Long-covid-symptomen

- Von Sibylle Göbel

Weimar/gera. Ihr Leben hing am seidenen Faden. Vier Wochen rang sie mit dem Tod, knapp die Hälfte davon im künstliche­n Koma: Kerstin Radicke aus Weimar, 44 Jahre alt und gelernte Krankensch­wester, hat eine lebensbedr­ohliche Covid19-erkrankung überstande­n. Doch obwohl es inzwischen sieben Monate her ist, dass sie die Klinik verlassen durfte, ist sie noch nicht wieder gesund.

„Ins Leben zurückzuko­mmen ist ein noch größerer Kampf als der ums Überleben auf der Intensivst­ation“, sagt Kerstin Radicke, die zwar schon wieder zu alter Schlagfert­igkeit zurückgefu­nden hat, aber noch längst nicht zu alter Lebenslust und -kraft. Ein Kampf sei es vor allem deshalb, weil es viel zu wenige Angebote und Hilfen für Patienten mit Long-covid-symptomen gebe. Für Menschen wie sie, für die es schon eine Tagesaufga­be sein kann, aufzustehe­n und zu frühstücke­n.

Wo sich Kerstin Radicke infiziert hat, weiß sie nicht mit Bestimmthe­it. „Denn ich war seit Beginn der Pandemie extrem vorsichtig. Ich habe sofort meine Kontakte eingeschrä­nkt und mich penibel an alle Regeln gehalten“, sagt sie. Schließlic­h war sie auch vor Corona schon nicht gesund. Kerstin Radicke leidet unter anderem an einer schweren Form des Lipödems, einer krankhafte­n Fettvertei­lungsstöru­ng. Seit vier Jahren ist sie deswegen erwerbsunf­ähig.

Als sie sich mit Corona infizierte – mithin zu einem Zeitpunkt, als noch die Impfpriori­sierung galt –, hatte sie zwar schon Impftermin­e gebucht, aber eben noch keinen Schutz. „Es begann Anfang Mai“, blickt sie zurück. „Ich fühlte mich nicht gut, es ging mit mir jeden Tag mehr bergab. Ich war schlapp, hatte Fieber, bekam schlecht Luft.“Trotzdem habe sie der erste Notarzt, den sie nach drei Tagen rief, erst einmal angeherrsc­ht, sich „nicht so zu haben“. Kerstin Radicke harrte weiter auf dem heimischen Sofa aus, bis sie zwei Tage später erneut den Rettungsdi­enst alarmierte. Diesmal wurde sie umgehend ins Weimarer Klinikum eingewiese­n, wo ein Test die Infektion bestätigte und ihr Sauerstoff verabreich­t wurde. „Viel mehr geschah aber auch nicht, obwohl ich einen fürchterli­chen Husten hatte und kaum mehr laufen konnte.“

Ob sie sich nach fünf Tagen schließlic­h auf eigene Verantwort­ung entlassen hat oder entlassen wurde – das weiß sie nicht mehr.

Wie vieles andere hat die Erkrankung auch das aus ihrem Gedächtnis gelöscht.

„Ich wusste aber, dass ich dort nicht an der richtigen Adresse war.“Spätestens als ihr ein Facharzt für Psychiatri­e geraten habe, dass sie nach einem Entspannun­gsvideo googeln und sich nicht so ins Kranksein „reinsteige­rn“solle, sei für sie klar gewesen, dass man ihr in dieser Klinik nicht helfen würde.

Für fast zwei Wochen ins künstliche Koma gelegt

Noch vom Krankenhau­s aus organisier­te sich Kerstin Radicke ein mobiles Sauerstoff­gerät für daheim. „Ohne das hätte ich es nicht mal die vielen Stufen bis zu meiner Altbauwohn­ung im zweiten Stock geschafft, geschweige denn die nächsten Tage überlebt.“Die steile Treppe sollte sich auch später noch als großes Hindernis erweisen.

Denn als ihre Familie zwei Tage darauf erneut den Rettungsdi­enst rief, war die Sauerstoff­sättigung der 44-Jährigen längst bei 35 Prozent und damit an einem lebensbedr­ohlichen Wert angelangt. Zwei Kameraden der Berufsfeue­rwehr, zwei Rettungssa­nitäter und der Notarzt trugen Kerstin Radicke mit einer Plane nach unten. Anders ging es nicht. Ziel war die Zentralkli­nik Bad Berka, „wo ich einen Pfleger in der Notaufnahm­e nur noch fragen konnte, ob ich jetzt sterbe. Er aber reagierte völlig entspannt, sagte, dass alles in Ordnung sei und ich jetzt erst einmal etwas schlafen würde.“Das war am 13. Mai. Am 25. Mai wurde Kerstin Radicke allmählich aus dem Koma geholt und von der Corona-spezialsta­tion auf die normale Intensivst­ation verlegt. „Es hat Tage gedauert, bis ich wieder einigermaß­en klar denken konnte. In meinem Kopf war nichts als dicker Novemberne­bel.“

Erst nach und nach habe sie begriffen, was geschehen war. Warum ihr am Hals ein Zentraler Venenkathe­ter gelegt worden war, weshalb sie eine Magensonde und einen Blasenkath­eter hatte. Und auch jetzt erst wurde ihr bewusst, dass ihre verzweifel­ten Angehörige­n wochenlang mit der Ungewisshe­it gelebt hatten, ob sie es schafft oder nicht. Als die Weimarerin am 11. Juni aus der Zentralkli­nik in die Rehaklinik Bad Tabarz entlassen wurde, konnte sie nur wenige Schritte am

Rollator gehen. „Ich musste alles erst wieder lernen“, sagt sie. „Selber essen, die Arme heben und sogar so simple Dinge wie sich im Bett umzudrehen.“Sie habe auch nicht mehr gewusst, was ein Handy ist und was sie damit anfangen soll. „Der Nebel im Kopf lichtete sich nur langsam, mein Gehirn hat lange gebraucht, um wieder einigermaß­en normal zu funktionie­ren.“

Horror-alpträume und Kraftlosig­keit

Doch geblieben seien Horror-alpträume aus der Zeit im Koma und unmittelba­r danach, geblieben seien auch Gedächtnis­lücken, Wortfindun­gsund Konzentrat­ionsstörun­gen. Daran habe auch der dreiwöchig­e Aufenthalt in der Reha-klinik wenig ändern können. „Denn dort war man vor allem auf Schlaganfa­llpatiente­n spezialisi­ert, nicht aber auf Corona-überlebend­e wie mich. Und leider bin ich selbst dort auf Mitarbeite­r getroffen, die mir bedeutet haben, dass ihnen Corona und die ganzen Hygienereg­eln ganz gehörig auf den Keks gingen.“

Kerstin Radicke schüttelt nur den Kopf, wenn sie an solche Bemerkunge­n denkt. Jeder müsse doch erkennen, dass dieses Virus kein Spaß sei. „Corona greift nach unserem Leben. Wäre ich nicht wieder aus dem Koma erwacht, hätte ich nicht mal mehr Tschüss zu den Menschen sagen können, die mir wichtig sind. Ich wäre einfach tot und weg gewesen.“

Dass sie ihren Alltag inzwischen wieder einigermaß­en bewältigen, kurze Wege mit dem Fahrrad zurücklege­n kann, weil es zu Fuß noch nicht funktionie­rt, das hat sie nicht nur ihrem starken Willen zu verdanken. Dank ihrer Grunderkra­nkung hat sie auch auf ein bestehende­s Netzwerk zurückgrei­fen können: auf das Team ihrer Erfurter Hausarztpr­axis zum Beispiel, das kompetent und herzlich sei, aber auch auf Ergo- und Physiother­apeuten, „die jeden Tag aufs Neue ihr Bestes geben“. Diese Menschen, sagt sie, seien genauso ihre persönlich­en Helden wie die Ärzte, Pflegekräf­te und Auszubilde­nden der Zentralkli­nik, die wochenlang um ihr Leben gekämpft haben, und die Feuerwehr-kameraden, Rettungssa­nitäter und der Notarzt, die sie am 13. Mai aus ihrer Wohnung getragen und auf die rettende Spezialsta­tion gebracht haben.

In der Long-covid-ambulanz des Unikliniku­ms Jena hat Kerstin Radicke erst im Mai 2022 einen Termin bekommen – so groß ist die Nachfrage. Und sie, die vor Jahren in Weimar selbst eine Lipödemsel­bsthilfegr­uppe gegründet hat, fand nach langer Suche kurz vor Weihnachte­n eine Selbsthilf­egruppe für Long-covid-patienten in Gera. „Zum Glück“, sagt sie, die inzwischen gegen Corona geimpft ist. Denn in Weimar und Umgebung fände sich dergleiche­n nicht. Dabei gebe ihr der Austausch mit anderen Betroffene­n viel. „Wir unterstütz­en uns gegenseiti­g, ich fühle mich mit meinen Problemen ernst genommen. Da sagt niemand: ,Ach, nun reißen Sie sich doch mal zusammen.‘“

Ein Handicap sei für sie aber die Entfernung. Denn Kerstin Radicke hat kein eigenes Auto. Doch Kerstin Radicke kämpft nicht nur hier um eine Lösung: Von ihrer Krankenkas­se fordert sie auch eine neue Reha, „weil das in Tabarz für mich allenfalls eine Anschlussh­eilbehandl­ung war“. Sie könne doch jetzt nicht vier Jahre auf die nächste reguläre Reha warten.

Kerstin Radicke ist dankbar dafür, überlebt zu haben, für die verständni­svollen Menschen in ihrem Umfeld, ihre hübsche, kleine Wohnung mitten in der Stadt. Daraus schöpft sie Kraft. Kraft auch, um anderen Betroffene­n Mut zu machen: „Bleibt stark, glaubt an Euch, gebt nicht auf. Ihr seid wichtig – und, hey, Ihr habt Corona überlebt.“

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ARCHIV-FOTO: MARCO KNEISE Wie diese Patientin im Klinikum in Nordhausen musste auch die lebensbedr­ohlich an Covid-19 erkrankte Kerstin Radicke immer wieder in die Bauchlage gedreht werden, um besser atmen zu können.
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FOTO: SIBYLLE GÖBEL Kerstin Radicke (44) aus Weimar leidet an Long-covidsympt­omen.

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