Schwere Vorwürfe gegen Ratzinger
Ein neues Missbrauchsgutachten wirft dem deutschen Papst und einstigen Kardinal vor, Täter geschützt zu haben
München. Der Missbrauchsskandal im Bistum München und Freising schlägt hohe Wellen. Der emeritierte Papst Benedikt XVI. drückte über einen Sprecher „Schock und Scham“aus. Der Heilige Stuhl will nun ein am Donnerstag vorgestelltes Gutachten zu Missbrauchsfällen innerhalb der katholischen Kirche sehen und prüfen, das den 94jährigen Benedikt schwer belastet. Er soll sexuellen Missbrauch vertuscht haben.
Die Anwaltskanzlei Westphal Spilker Wastl hat ein Gutachten zu den Missbrauchsfällen im Erzbistum von 1945 bis 2019 vorgestellt. Insgesamt ergaben sich laut dem Gutachten für das Münchner Erzbistum bei 235 von 261 untersuchten Mitarbeitern der Kirche Hinweise auf sexuell missbräuchliche Verhaltensweisen. Davon waren 173 Priester. Die Studie geht von 497 Opfern aus – 247 davon männlich und 182 weiblich, meist im Kindesalter.
In mindestens vier Fällen lastet die Untersuchung dem früheren Kardinal Ratzinger Fehlverhalten an. Ihm wird vorgeworfen, dass er damals weggeschaut – ein Interesse an den Missbrauchsopfern sei bei Ratzinger „nicht erkennbar“– und nicht bei der Aufklärung mitgeholfen habe. So gab er an, bei einer Sitzung gefehlt zu haben, bei der ein pädophiler Priester eingestellt wurde. Diese Aussage hält Rechtsanwalt Ulrich Wastl „für wenig glaubwürdig“. Zum einen wurde Ratzinger im Protokoll nicht als abwesend geführt. Zum anderen finden sich dort Aussagen von ihm zu anderen Themen.
Erschreckende Lügen und ein zerstörtes Lebenswerk
„Erschreckend ist das Lügen, das Unwahrheitsagen von Joseph Ratzinger“, sagte der Münsteraner Kirchenrechtler Thomas Schüller im Bayrischen Rundfunk. „Er hat heute sein eigenes Lebensbild zerstört.“In einem weiteren Interview sprach er von einem „persönlichen Waterloo“. Ratzinger habe die letzte Chance vertan, reinen Tisch zu machen.
Die Frauen-reformbewegung Maria 2.0 übte scharfe Kritik an der gesamten katholischen Kirche. „Es fand sich, wie Gutachterin Dr. Marion Westpfahl betonte, in den ganzen Bemühungen, den Missbrauch aufzuarbeiten, nicht ein Gerechter.“Das bedeute: „Alle im Gutachten erwähnten Amtsträger haben sich schuldig gemacht“, sagte Lisa Kötter, die Initiatorin der Frauenreformbewegung Maria 2.0, unserer Redaktion. Die Amtsträger hätten sich als Systemträger an der Vertuschung des Missbrauchs beteiligt. „Es ging nie um den Schutz der Schwachen.“
Auch der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs wirft der katholischen Kirche „kalten Pragmatismus“
und „konsequenten, herzlosen Institutionenschutz“vor. „Aus den Missbrauchsfällen wurden bürokratische Vorgänge, Empathie für die Betroffenen fehlte völlig“, sagte Johannes-wilhelm Rörig unserer Redaktion. Auch nach zehn Jahren im Amt als Missbrauchsbeauftragter habe ihm das Gutachten fast die Sprache verschlagen. „Ich bin immer wieder verblüfft, wie die Kirche jahrzehntelang versucht hat, mit kaltem Pragmatismus Missbrauch wegzuverwalten.“
Positiv bewertet er, dass die Gutachter zu den Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche die Notwendigkeit eines „geschützten Raums“für die Betroffenen betont hätten. An die Bundesregierung appelliert Rörig, die von ihm 2016 berufene Aufarbeitungskommission zu stärken, gesetzlich zu verankern und ihr Kontroll- und Beratungsrechte zu geben.
Bietet Kardinal Marx dem Papst erneut den Rücktritt an?
Auch dem amtierende Münchner Erzbischof Kardinal Reinhard Marx werfen die Gutachter Untätigkeit vor. Es sei ungeachtet der vielen Meldungen nur in „verhältnismäßig geringer Zahl“festzustellen, dass sich der Kardinal überhaupt unmittelbar mit Missbrauchsfällen befasst habe, sagte Wastls Partner Martin Pusch. Außerdem sei Marx in zwei Verdachtsfällen ein konkretes fehlerhaftes Verhalten vorzuwerfen.
Pusch sagte, Marx habe sich auf eine „moralische Verantwortung“zurückgezogen und die direkte Verantwortung im Generalvikariat gesehen. Bei so einem zentralen Thema greife es zu kurz, „auf die Zuständigkeit und Verantwortlichkeit ihm unterstellter Funktionsträger zu verweisen“, so Pusch. Was sei Chefsache, wenn nicht sexueller Missbrauch? Erst ab dem Jahr 2018 habe es bei Marx eine geänderte Haltung gegeben. Das Gutachten, welches 1700 Seiten lang ist, wurde zwar von Marx in Auftrag gegeben, bei der Vorstellung am Donnerstag war er jedoch nicht anwesend.
Der Pressesprecher des Vatikans, Matteo Bruni, bekräftige „sein Gefühl der Scham und Reue für den Missbrauch von Minderjährigen durch Geistliche“. Gleichzeitig wolle die katholische Kirche auf dem eingeschlagenen Weg bleiben, die Kinder zu schützen.