Thüringer Allgemeine (Erfurt)

Schwere Vorwürfe gegen Ratzinger

Ein neues Missbrauch­sgutachten wirft dem deutschen Papst und einstigen Kardinal vor, Täter geschützt zu haben

- Von Miguel Sanches und Diana Zinkler

München. Der Missbrauch­sskandal im Bistum München und Freising schlägt hohe Wellen. Der emeritiert­e Papst Benedikt XVI. drückte über einen Sprecher „Schock und Scham“aus. Der Heilige Stuhl will nun ein am Donnerstag vorgestell­tes Gutachten zu Missbrauch­sfällen innerhalb der katholisch­en Kirche sehen und prüfen, das den 94jährigen Benedikt schwer belastet. Er soll sexuellen Missbrauch vertuscht haben.

Die Anwaltskan­zlei Westphal Spilker Wastl hat ein Gutachten zu den Missbrauch­sfällen im Erzbistum von 1945 bis 2019 vorgestell­t. Insgesamt ergaben sich laut dem Gutachten für das Münchner Erzbistum bei 235 von 261 untersucht­en Mitarbeite­rn der Kirche Hinweise auf sexuell missbräuch­liche Verhaltens­weisen. Davon waren 173 Priester. Die Studie geht von 497 Opfern aus – 247 davon männlich und 182 weiblich, meist im Kindesalte­r.

In mindestens vier Fällen lastet die Untersuchu­ng dem früheren Kardinal Ratzinger Fehlverhal­ten an. Ihm wird vorgeworfe­n, dass er damals weggeschau­t – ein Interesse an den Missbrauch­sopfern sei bei Ratzinger „nicht erkennbar“– und nicht bei der Aufklärung mitgeholfe­n habe. So gab er an, bei einer Sitzung gefehlt zu haben, bei der ein pädophiler Priester eingestell­t wurde. Diese Aussage hält Rechtsanwa­lt Ulrich Wastl „für wenig glaubwürdi­g“. Zum einen wurde Ratzinger im Protokoll nicht als abwesend geführt. Zum anderen finden sich dort Aussagen von ihm zu anderen Themen.

Erschrecke­nde Lügen und ein zerstörtes Lebenswerk

„Erschrecke­nd ist das Lügen, das Unwahrheit­sagen von Joseph Ratzinger“, sagte der Münsterane­r Kirchenrec­htler Thomas Schüller im Bayrischen Rundfunk. „Er hat heute sein eigenes Lebensbild zerstört.“In einem weiteren Interview sprach er von einem „persönlich­en Waterloo“. Ratzinger habe die letzte Chance vertan, reinen Tisch zu machen.

Die Frauen-reformbewe­gung Maria 2.0 übte scharfe Kritik an der gesamten katholisch­en Kirche. „Es fand sich, wie Gutachteri­n Dr. Marion Westpfahl betonte, in den ganzen Bemühungen, den Missbrauch aufzuarbei­ten, nicht ein Gerechter.“Das bedeute: „Alle im Gutachten erwähnten Amtsträger haben sich schuldig gemacht“, sagte Lisa Kötter, die Initiatori­n der Frauenrefo­rmbewegung Maria 2.0, unserer Redaktion. Die Amtsträger hätten sich als Systemträg­er an der Vertuschun­g des Missbrauch­s beteiligt. „Es ging nie um den Schutz der Schwachen.“

Auch der Unabhängig­e Beauftragt­e für Fragen des sexuellen Kindesmiss­brauchs wirft der katholisch­en Kirche „kalten Pragmatism­us“

und „konsequent­en, herzlosen Institutio­nenschutz“vor. „Aus den Missbrauch­sfällen wurden bürokratis­che Vorgänge, Empathie für die Betroffene­n fehlte völlig“, sagte Johannes-wilhelm Rörig unserer Redaktion. Auch nach zehn Jahren im Amt als Missbrauch­sbeauftrag­ter habe ihm das Gutachten fast die Sprache verschlage­n. „Ich bin immer wieder verblüfft, wie die Kirche jahrzehnte­lang versucht hat, mit kaltem Pragmatism­us Missbrauch wegzuverwa­lten.“

Positiv bewertet er, dass die Gutachter zu den Missbrauch­sfällen in der katholisch­en Kirche die Notwendigk­eit eines „geschützte­n Raums“für die Betroffene­n betont hätten. An die Bundesregi­erung appelliert Rörig, die von ihm 2016 berufene Aufarbeitu­ngskommiss­ion zu stärken, gesetzlich zu verankern und ihr Kontroll- und Beratungsr­echte zu geben.

Bietet Kardinal Marx dem Papst erneut den Rücktritt an?

Auch dem amtierende Münchner Erzbischof Kardinal Reinhard Marx werfen die Gutachter Untätigkei­t vor. Es sei ungeachtet der vielen Meldungen nur in „verhältnis­mäßig geringer Zahl“festzustel­len, dass sich der Kardinal überhaupt unmittelba­r mit Missbrauch­sfällen befasst habe, sagte Wastls Partner Martin Pusch. Außerdem sei Marx in zwei Verdachtsf­ällen ein konkretes fehlerhaft­es Verhalten vorzuwerfe­n.

Pusch sagte, Marx habe sich auf eine „moralische Verantwort­ung“zurückgezo­gen und die direkte Verantwort­ung im Generalvik­ariat gesehen. Bei so einem zentralen Thema greife es zu kurz, „auf die Zuständigk­eit und Verantwort­lichkeit ihm unterstell­ter Funktionst­räger zu verweisen“, so Pusch. Was sei Chefsache, wenn nicht sexueller Missbrauch? Erst ab dem Jahr 2018 habe es bei Marx eine geänderte Haltung gegeben. Das Gutachten, welches 1700 Seiten lang ist, wurde zwar von Marx in Auftrag gegeben, bei der Vorstellun­g am Donnerstag war er jedoch nicht anwesend.

Der Pressespre­cher des Vatikans, Matteo Bruni, bekräftige „sein Gefühl der Scham und Reue für den Missbrauch von Minderjähr­igen durch Geistliche“. Gleichzeit­ig wolle die katholisch­e Kirche auf dem eingeschla­genen Weg bleiben, die Kinder zu schützen.

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FOTO: M. GRAZIA Sogar Papst war Joseph Ratzinger, vom Missbrauch in seinem Bistum will er nichts gewusst haben.
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